Mitte 2003 etwa, Baby

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Der Tag geht weiter, wie er nicht hätte beginnen sollen: Schrecklich. Mit Alexander Klaws auf VIVA. Deutschland sucht den Superstar. Ich projiziere die komplette negative Energie, die sich seit gestern Nachmittag um mich herum aufgebaut hat, auf Alexander Klaws. Das hat er nicht verdient, zumal wir früher ja quasi Nachbarn waren. Ich aus Münster, er aus Sendenhorst. Deutschland sucht den Superstar, Marie sucht die Superausrede. Vor drei Stunden klingelte das Handy. Ich hatte gerade bezahlt, nachdem ich mit ein paar alten Freunden aus Münster im Dexter´s an der Milchstrasse ein ziemlich langes Mittagessen genossen habe. Leute wie Tim oder Jana sehe ich normalerweise einmal im Jahr, am Heiligen Abend, in der Nacht auf den 25. Dezember, wenn Münsters für das Fest der Liebe heimgekommene Staffel der sich für die jungen Erfolgreichen  haltenden Abiturjahrgänge am Ende des letzten Jahrhunderts in die Stadt einfällt und sich nach der gemütlichen Bescherung im trauten Kreis der Familie im Club einfindet, der früher einfach „Le Club“ hieß und heute plötzlich „Insonnia“. Egal. Marie rief an, wir hatten uns für den Abend lose fürs Kino verabredet, das hatten wir in den Monaten davor eigentlich jeden Sonntag gemacht. Das Gespräch begann mit „Kannst du gerade reden?“ Ich hatte es nicht verlernt, plötzlich, in meinem favorisierten Burgerladen in Pöseldorf, also sagte ich „Ja“.

 

Was folgte, war ein wenig innovativer Remix einer Abhandlung über die Klischees einer Telefontrennung. Es ist kein anderer Mann im Spiel. Du bist das Beste, was mir bisher passiert ist. Honig. Es liegt nicht an dir. Ich will dich heiraten. In einem Jahr will ich dich unbedingt wieder in meinem Leben haben. Verliere ich dich als Freund? Wahrscheinlich werde ich heute Nacht denken, dass das die bescheuertste Entscheidung meines Lebens war. Aber ich will eine Pause. Verstehst du das?

 

Verstehen? Was gibt es da zu verstehen? Marie ruft mich an und teilt mir mit, dass sie ihre seit 2 Jahren anhaltenden Bekundungen, dass wir füreinander geschaffen wären, wohl irgendwie doch nicht so richtig absehen konnte. Kann ja mal passieren.

 

Ich habe meine Co-Pilotin verloren, denke ich. Etwas in meinem Herzen und damit auch in meinem Leben fehlt. Plötzlich. Wie ein Blitz, der einschlägt und deinen besten Freund raubt. Und dein aufregendstes Gut: den wahnsinnigen Sex mit einem atemberaubenden Körper, der noch dazu einer ungeheuer faszinierenden Frau gehört.

 

Ich denke nicht zuerst an den Sex. Ich denke gar nichts. Ich glaube, ich habe so sinnentleerte politisch korrekte Sätze versucht wie „Ich habe mit dir die schönsten Momente meines Lebens erlebt. Ich könnte dir niemals böse sein. Du musst tun, was du fühlst.“ Keine Ahnung. Vielleicht habe ich das auch nicht gesagt. Ich kann mich ehrlich nicht erinnern.

 

Während des etwa 20-minütigen Gespräches laufe ich zwischen der Milchstrasse, dem Pöseldorfcenter und der Alster entlang. Ich gucke auf den Porsche von Jil Sander, als ich ungefähr bei „Ja, ich glaube dir, dass kein anderer Mann dahinter steckt“ bin. Als das Gespräch beendet ist, stehe ich etwa 5 Minuten regungslos herum. Ich habe aufgehört zu laufen. Gilt das auch für mein Leben? Ich fahre zurück, Carlito ruft an. Ich gehe ran. Ich bin nicht so schockiert, wie ich dachte. Mein Leben mit ihr läuft nicht wie ein Film vor meinem inneren Auge ab und ich habe keinen stechenden Schmerz in der Brust. Aber ich bin leer. Es fühlt sich einen Moment so an, als könnte ich nie mehr an etwas Anderes denken. Eben noch habe ich mit den anderen lachend im Dexter´s blöde Sprüche aneinander gereiht und mich darüber gefreut, dass mein Leben läuft. Ein Glück waren die schon ein paar Sekunden weg, als der Anruf kam. Marie wird heute Abend nicht kommen. Nicht mit mir ins Kino gehen. Nicht heute, und ich fühle auch keine große Euphorie dafür, das in den nächsten Tagen als Reminiszenz an unser Erwachsen sein und Freunde bleiben als offizieller Ex-Freund nachzuholen. Ich bin von tiefer Traurigkeit getroffen. Als wäre etwas weg. Es ist etwas weg, denke ich.

 

Carlito will in die Summer Lounge, nach Frauen ausschauen. Es ist immer noch 22 Grad, es ist 18 Uhr, es ist Sonntag. Irgendwo müssen sie sich doch verstecken. Gestern war Love Parade. Nur 500.000 Leute, aber Hamburg war leergefegt. Die können ja nicht alle in Berlin gewesen sein. Hier waren sie aber auch nicht. Die müssen ja irgendwo sein. Wir müssen sie suchen.

 

Grundsätzlich eine tolle Idee. Aber nicht jetzt. Marie hat gerade Schluss gemacht, sage ich. Carlito glaubt mir nicht. Ha ha. Wenn ich es glaube, darfst du es ruhig auch glauben. Soll er vorbei kommen? Klar. Zusammen DVDs sehen und gedankenverloren rumhängen. Was würde er mir wohl erzählen. Sie hatte dich sowieso nicht verdient? Ich hatte sie ohnehin nie richtig gemocht? Sie wird auf jeden Fall zurückkommen? Du kannst doch jede haben?

 

Egal. Momentan weiss ich gar nichts. Nicht wen ich haben will, nicht wen ich nicht haben will. Nur alleine sein. Nicht mit ihm, auch mit keinem anderen. Nur ich und meine Gedanken, von denen ich noch nicht absehen kann, wie sie werden.

 

Zuhause finde ich keinen Parkplatz und laufe drei Querstrassen. Ich überlege, an die Elbe runter zu gehen und mich dem Wind hinzugeben. Ich entscheide, dass das zu sehr Kurt Cobain ist und will lieber cool sein. Ich denke an Anika. Komisch, sollte ich nicht an Marie denken? Ein klassischer Reflex? Wenn ich Marie nicht mehr habe, wer wäre die nächste, die ich würde haben wollen? Das wäre Charlotte Casiraghi. Und die nächste, die wirklich an meinem Leben teilnimmt? Anika. Zwischen uns war es schon ein paar Mal so weit, dass ich mir sicher war, wenn wir uns jetzt noch mal treffen, dann passiert was. Es geht nicht anders. Dann haben wir uns 6 Wochen nicht gesehen und es einfach ins Leere laufen lassen. Um dann wieder von vorne anzufangen. Belanglose SMS, kurzes Telefonieren, Essengehen. Feiern gehen, Hand in Hand durch die Nacht ziehen. Sich wohl fühlen. An Marie denken, die Notbremse ziehen. Ich erwische mich bei dem Gedanken: da geht was. Bin ich vielleicht doch ein typischer Mann. Bäumchen wechsle dich?

 

Oben in meiner Wohnung ist der Kühlschrank leer. Irgendwie habe ich Hunger, dabei komme ich gerade vom Essen. Aber als ich den Cheeseburger gegessen habe vor einer knappen Stunde, habe ich ihn noch mit Marie zusammen gegessen. Sie war nicht da, saß nicht am Tisch – aber sie war da. Jetzt ist sie auch da. Aber anders. Dunkel. Traurig. In mir und auf einem Weg von mir weg. Gefangen in Erinnerungen. Ohne konkrete Bilder. Ich nehme einen zerknüllten Pullover von einer Stuhllehne. Vorhin musste ich schnell weg und hatte den Pullover an. Dann habe ich doch noch schnell lieber ein Hemd angezogen. Jetzt halte ich den Pullover in meiner Hand und rede mir ein, dass ich ihn nie mehr tragen werde, denn ich hatte ihn das letzte Mal an, als ich noch mit Marie zusammen war. Das würde bedeuten, dass ich meinen Kleiderschrank entleere und alles wegwerfe. Dasselbe würde ich mir dann vermutlich bei Besteck und CDs einreden. Also auch kein brauchbarer Plan. Ich denke schon wieder an Anika. Eigentlich ist das gut. Aber irgendwie will ich das auch nicht. Ich bin ein auf- und abflackerndes Licht, eine defekte Halogenlampe, ein durch die Nacht irrender Wagen auf einer leeren, Regenüberfluteten Autobahn. Ich will, dass sie noch mal anruft, aber ich will nicht rangehen. Ich will, dass sie unangekündigt an meiner Tür klingelt, aber ich will nicht aufmachen. Ich esse ein Pick Up und drei Weingummi-Colaflaschen. Danach ist mir schlecht. Das letzte Mal, als ich Weingummi gegessen habe, war ich noch mit Marie zusammen. Das macht es jetzt auch nicht besser. Auf VIVA läuft jetzt Robbie Williams: „If you´re lost, hurt, tired and lonely, something beautiful will come your way”. Herr Williams hat leicht reden. Ich setzte mich auf den Balkon und warte auf das „something beautiful“ das mich erwartet. Mal sehen.

 

 

(Darius A. Diekmann)

 

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