Sommer 2001

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Sommer 2001

 

Das Geräusch des Motors war kraftvoll und zurückhaltend. Kein Summen! Die Tachoanzeige fiel selten unter die 130. Die Beine unter dem Lenkrad passten in das Cockpit. Sie war hübsch. Da war es natürlich: Ein Vorteil, dass ich keinen Führerschein hatte. So fuhr sie und ich verbrachte die Stunden damit, womit Männer die meiste Zeit verbringen sollten: Ich konnte sie dauernd ansehen. Der Himmel versprach Freiheit, das Glitzern der Sonnenstrahlen reflektierte auf dem Silberlack. Eine dunkle Brille fing es ab. Die Kiemen des Wagens saugten gierig nach Luft. Der Duft des schönen, klaren Tages mischte sich mit dem zarten Geruch ihrer weichen Haut. Ich berührte ihren Halsansatz. Streichelte ihn ganz sanft und vorsichtig. Weder jetzt noch irgendwann vorher hatte sie jemals eine Regung auf diese Berührung gezeigt. Sie lächelte nicht, sie schaute mich nicht an. Sie war undurchschaubar. Gefiel ihr diese Berührung? Ich konnte das nur hoffen, nie wissen...

Ich ertappte mich dabei, nicht zu wissen, woran ich eben gedacht hatte. Die Strecke war stupide und ich in Gedanken auf eine andere Fahrbahn geraten. Sowieso waren die Spuren, auf denen ich mich gerade bewegte, unruhiges Fahrwasser mit Verkehrsregeln, die schwer zu definieren waren. Immerhin war es meine Entscheidung, in welche Richtung es ging, Gott sei dank. Es ist grundsätzlich besser, das Steuer in der Hand zu haben. Eine Erkenntnis, die sich wohl kaum ausschließlich auf den Straßenverkehr beziehen ließ und, ehrlich gesagt, waren die entgegenkommenden Autos eher sekundär, angesichts der Tatsache das ununterbrochen ein Augenpaar auf mir ruhte.

 

Es gab schönere Cabriolets als den Z3. Ich mache mir ohnehin nichts aus Wagen. Aber es war ihr Traumauto, und sie meine Traumfrau, darum hatte ich den Wagen ausgewählt, und immerhin, es war ein Wagen der 90er. Das Jahr 2000, es war schon fast 20 Monate vorbei. 2000, das klang nach gigantischer Party. Nach einer Mischung aus gefährlichen Getränken, groovenden Rhythmen, Feuerwerk und einem coolen Leben auf der Überholspur. Millennium. Keiner hatte sich mehr von diesem Jahrhundert-Wechsel versprochen als ich. Und bis weit in das Jahr 2001 hinein hatte es nicht so ausgesehen, als könnte dieser Traum eines perfekten Jahrhundert-Wechsels auch nur annähernd in Erfüllung gehen. Der berufliche Erfolg war kein ausreichender Anlass. Was einem Jungen wirklich zufrieden macht, ist: nicht zufrieden zu sein, weil eine faszinierende Frau in sein Leben getreten ist, die er gewinnen möchte, um jeden Preis, die er halten möchte, mit allen Mitteln, und bei denen seine komplette Lebenseinstellung plötzlich hinfällig wird. Das Jahrelange spielen mit Frauen. Die Zufriedenheit darüber, sich nie richtig verliebt zu haben. Das beruhigende Gefühl, immer am längeren Hebel des emotionalen Gleichgewichtes zu sitzen. Von irgendwoher höre ich Miss California“. Ein Zeichen?

Ich wusste eigentlich nicht genau was ich von der Situation halten sollte in die ich da hineingeschlittert war ohne es zu registrieren bevor ich mich mitten drin befand und somit im Zentrum des Chaos steckte. Ich gehöre zu dem Teil der Erdbevölkerung der Rationalität für eine unsinnige Erfindung hält, mein Kompass sitzt irgendwo in meinem Bauch. Wenn ich die Wahl hätte mich in einem Freund zu täuschen, oder mit meinem Gefühl falsch zu liegen wäre Variante A die für mich einzig akzeptable. Von irgendwoher die Musik von Miss California. Wenn ich an die Visage von dem Typ denke der diesen Song gesungen hat wird mir schlecht. Dante Thomas ist absolut indiskutabel. Im Gegensatz zu der Person neben mir. Was die angeht befindet sich meine zuverlässige Intuition allerdings im Urlaub. Vielleicht ja in Californien. Ist ja auch egal. Fakt ist sie ist nicht da und ich habe keine Ahnung wo die Fahrt hingeht.

 

 Eben hadere ich noch mit meinem Schicksal, dem ganzen Millennium-Quatsch und komme mir schon vor wie Dieter Bohlen: „Die ganze Welt ist gegen mich und keiner versteht, dass ich eigentlich ein ziemlich cooler Typ bin ...“ Aber dann: Gerade noch rechtzeitig ist sie in mein Leben geschneit. Kurz vor Toresschluss, quasi in der Nachspielzeit. Gerade, als ich mich belustigt gefragt habe, wie ich das wohl erklären sollte, vor mir selber, am drohenden Sylvester 2002, wenn Kassensturz gemacht wurde, was das tolle neue Jahrtausend so gebracht hätte. Die totale Katastrophe? Endlich den Aufschwung? Das Ultimative? Das Neue? Die neue Postmoderne? Auf jeden Fall irgendwas. Und jetzt: Sie! Es würde doch kein Standart-Sylvester werden: lauwarmer Champagner, Chipsletten. Wildfremde Idioten, denen man jedem persönlich, am besten mit Küsschen, pünktlich wenn der Zeiger auf den Chronometern das anzeigt, was auch in den meisten Köpfen in so einer Nacht vorherrscht, nämlich: Null, ein gutes neues Jahr wünschen musste. Und dann kein Funk-Netz, um wenigstens den paar wichtigen Leuten via SMS irgendetwas schicken zu können, um nicht total zu verzweifeln. Nein, es würde schön werden. Vielleicht sogar ein bisschen romantisch. Eine Vorstellung, die ich früher immer verabscheut hatte. Jetzt fühlte ich mich gut dabei, mich zu ertappen, wie ich mir sogar ein bisschen Romantik wünschte. Von ihr. Mit ihr. Sie erleben wollte.

 

Im Radio Robbie Williams. Alleine und großartig. Back for good ist ziemlich lange her. Everything changes denk ich und auch Eternity gehört bald in den Katalog meiner Erinnerungen. Ich bin mir noch nicht klar, welches Bild dann dazugehört. Vielleicht diese merkwürdige Fahrt. Vielleicht gar nichts. Vielleicht auch irgendein absurdes Ereignis von Morgen oder übermorgen. Wer weiß das schon. Aber egal was es ist, irgendwann werde ich mit den Mädels am Küchentisch sitzen und die ganze Situation in Einzelteile zerlegen. Im Moment bin es allerdings noch ich die aus lauter unzusammenhängenden Mosaikstückchen besteht. Seit gestern, oder vorgestern oder vielleicht auch schon seit einem Zeitpunkt der noch viel länger zurück liegt. Wer weiß das schon. Ich hab keinen Bock mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Stattdessen überleg ich mir lieber wie ich meinen Mädels diesen Typen auf meinem Beifahrersitz erklären soll inklusive der verfahrenen Situation die damit zusammenhängt.

 

  Ihre braungebrannten Beine wippten leise mit dem Song. Im Radio läuft Eternity von Robbie Williams,. Der Soundtrack des späten Frühsommers 2001. Sie sah umwerfend aus, ich liebte ihre Bewegung, wenn sie sich die durch den Fahrtwind zerzausten Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Beine lang, Bauchmuschel weich. Das mit dem Jahrtausend war plötzlich doch nicht mehr so wichtig – Sie war hier!

 Außerdem: Es ist ohnehin nicht sicher, ob Jesus wirklich vor 1999 oder 1998 Jahren gestorben war. Und daher kam doch das Datum, sagt man jedenfalls. Weil man das nicht wirklich weiß, kann es ja auch sein, dass erst 2001 ganz unglaublich einzigartig wird. Mit ihr. Mir wird so einiges klar, in diesem Moment. So muss es sein. Denn die Zahl ist eine Annahme, und Jesus ist vielleicht schon vor dem Jahr Null auf die Welt gekommen, oder erst später. Vielleicht nur ein paar Jahre. Vielleicht gab es ihn ja auch gar nicht, diesen Herrn Jesus. Oder sie glaubte vielleicht nur, dass es ihn gab. Oder sie glaubte es nicht. Oder ihr Jesus hieß Robbie Williams. Das wäre schlecht, obwohl, wenn er nicht Andreas Türck hieß war ja schon mal der erste Schritt getan. Ich sitze im Ledersitz tief, sicher, körperlich zumindest, und fühle eine Unsicherheit in mir aufsteigen, die ich lange nicht gespürt habe. Surreale Momente habe ich im Zusammenhang mit Frauen eigentlich sogar noch nie gehabt. Ich erwische mich bei dem Gedanken, dass ich selber gerne ihr Jesus wäre. Ihre Religion. Dabei kannten wir uns noch gar nicht so lange. Kaum eigentlich. Oder doch? Wollte sie überhaupt einen Jesus? Oder lieber einen Brad Pitt? Sie hat seit 2 Stunden kein Wort gesprochen. Sitzt da, weiß, dass ich sie ansehe, merkt, dass sie hier nicht alleine ist und spielt mit meiner Unsicherheit. Die hätte ich nicht, wenn ich Jesus wäre. Der Zug ist also schon mal abgefahren. Also nicht Jesus. Oder doch? Konfusion. Na ja, egal.

 

Es gibt zwei Arten von Stille. Die eine findet man oft in irgendwelchen südlich gelegenen Pauschaltourismushotels, sie steht zwischen den im hässlichen Speisesaal sitzenden Ehepaaren die im besten Fall als Ausrede für ihr schweigen den schönen Panoramablick anführen können. Fehlt dieser allerdings, kann man oft erkennen, wie er mit Schweißflecken in der Achselgegend seines billigen Polyesterhemdes und im Mundwinkel eingeklemmter Zunge sein Schnitzel Wiener Art tranchiert. Die andere Stille ist warm und weich und füllt den Bauch aus und ist das einzige was zwischen zwei Menschen steht. Es gibt nicht viele Menschen mit denen man wirklich gut schweigen kann. Freunde mit denen man genauso gut schweigen kann wie reden sind selten. Pauschaltouristenehepaare oft. Und kann man Schnitzel überhaupt tranchieren? Egal, die Person der ich mich gegenüber sehe ist nicht mein Freund, aber genauso wenig kein Freund. Aber eins ist sicher: Wir schweigen seit zwei Stunden, ich für meinen Teil aus einem ganz anderem Grund. Es passiert mir eher selten das ich nichts zu sagen habe. Das ist auch jetzt nicht so. Im Gegenteil. Ich könnte jede Menge sagen. Genau darum ist es einfacher die Klappe zu halten.

 

Diese Beine, dieser Rücken, diese Hände. Das ist Religion. Diese Musik. Das ist auch Religion. Gute Gespräche: Religion. Hier: Schweigen. Ich bin der Til Schweiger der Autobahn. Sie dann wohl Dana. Lustig. Til Schweiger war mal der Gott der 9. Klasse. Süß, jung, Mädchen fanden ihn scharf, lange bevor Brad Pitt die erste Levi´s anhatte. Heute ist Schweiger lahm. Boss-Model ohne die Aura des Bottled-Mannes, Familienvater ohne den Charme von Jude Law, der genauso alt ist und auch schon Vater, ohne Erotik. Sagen die Frauen, die ich kenne. Gott A.D. Es gibt andere Götter heute, in der Mitte des wahren Millenniums, 2001, wie man von diversen Klugscheißern an jeder Ecke vernehmen konnte. Sie kommen aus dem Nebel der dröhnenden Clubs, in denen sich Körper an Körper reiben. Dieser Wagen. Mit ihr am Steuer. Ein Traum. Kraftvoll. Ein Z3. Sie. Auch Religion.

 

Ein Blick auf den Tacho meldete 200. Schon vorher hatte ich mich so in meinem Sitz zurückgelehnt, dass ich ihr ins Gesicht sehen konnte, durch den Rückspiegel, und so zumindest eine geringe Chance bestand, dass sie mir zwischendurch in die Augen sehen würde. Ich fand diese Momente so einzigartig wie noch nie etwas vorher. Außerdem musste ich dauernd auf ihre Schenkel sehen, braun und weich. Ein paar Mal wollte ich sie dort berühren, einfach so, um mich gut zu fühlen, um sie zu erleben. Aber ich hatte mich nicht getraut. Wusste nicht, ob sie diese Berührungen mochte, sie vielleicht sogar genoss, so wie ich es tat, oder sie vielleicht bedenklich fand, störend, komisch. Ihr Rock war sehr kurz, wirkte aber sehr erotisch, nie billig. Sie hatte sich eine Marlboro Lights angezündet.

 

Das schlimme an solchen Situationen ist die Gewissheit, dass man selber, als Teil des Geschehens, niemals wissen würde, was genau da eigentlich passierte. Ich meine, was da gerade WIRKLICH passierte. Du sitzt mitten in einer Geschichte und kannst sie selber nicht lesen während Du sie spielst. Was wohl passiert wenn man aus dem Märchenbuch rausklettert um es sich als Zuhörer davor bequem zu machen? Egal, mein persönliches Märchen entsprach eh keinem einzigen Klischee, das man mit den Erzählungen von Grimm und Co in Verbindung bringen würde. Der Prinz auf dem weißen Pferd zieht es seit ich mich erinnern kann den Proben fernzubleiben. Stattdessen gab es immer nur Lightdoubles und noch dazu schlechte. Und dazu kommt jetzt auch noch er. Rolle: Noch unbekannt. Statist ist er schon mal nicht. Ich bin mir nicht ganz sicher ob er nicht vielleicht doch eine Hauptrolle spielen sollte. Aber er hat nicht mal einen Führerschein. Geschweige denn ein Pferd. Ich rauche erst mal eine.

 

 Asche auf dem Wagenteppich, Zigarettenstummel im Aschenbecher. Eigentlich passte das nicht zu mir, nicht, weil ich so ordentlich wäre, aber ich rauche nicht, doch mein ästhetischer Sensor sagte mir eindeutig, dass sie rauchen musste. Das passte ins Bild. Und darauf kam es vor allem an.

 

 Nach ihrem letzten Schaltvorgang nestelte ich an meiner Sonnebrille. Keine Ahnung, warum. Vielleicht wollte ich Aufmerksamkeit von ihr. Sie hatte sich in Position gebracht, saß jetzt wieder aufrechter in ihrem Sitz. Was war der Grund, dass ich hier mit ihr sein wollte, unbedingt? Dass ich nicht dachte, es wäre eine Bürde, die ich mir auflade, wenn sie dabei wäre. Dass ich nicht befürchtete: Sie zu mögen, so nah an mich heran zu lassen und sie so sehr zu verehren, wie ich merkte, dass ich es tat, würde auch bedeuten: weniger Freiheit, für etwas dass man nie richtig würde abschätzen können. Kann ein Bild Wirklichkeit werden, und erst recht dann, wenn man es nie gezeichnet hat, sondern es sich im Moment des zum Leben erweckt Werdens erst vor deinen Augen zu einem Bild zusammenfügt? Und könnte dieses Bild dich für die verlorene Freiheit entschädigen, ein Mosaiksteinchen eines Filmes werden, der von deinem Leben gedreht wird und der ohne dieses Bild, ohne sie, diesen Traum, niemals ein solcher Erfolgsfilm gewesen wäre? Sie war ein Blockbuster. Und ich der kleine Junge, der sein letztes gespartes Taschengeld für eine Eintrittskarte hinblättern würde. Sofort. Nur um 90 Minuten einzutauchen in diese Welt. Mit ihr. Wie komme ich eigentlich darauf? Ihr Rock war übrigens schwarz und hatte einen Schlitz, sehr hoch gezogen.

 

   Konversation scheint ausgeschlossen. Spannung, Funken, irgendeine Bewegung – alles ist deutlich spürbar, aber keiner sagt einen Ton. Kein Wort, das zu viel verraten könnte. Rede ich mir ein. Vermutlich hat sie einfach keine Lust mit mir zu reden. Oder noch schlimmer, der Todesstoß: Sie hat vielleicht einen Freund, an den sie dauernd denkt, und hat gar keine Zeit für einen Gedanken an mich, unsere Reise, diese Situation, unsere Zukunft, wenn es eine gibt. Ich lenke mich auch ab. An was kann ich denken, möglichst locker dabei wirken und gelangweilt tun. Ich gucke mich um. Ein schöner Wagen, in dem wir sitzen. Alle anderen Teilnehmer am Straßenverkehr gucken begeistert rüber. Blonde Frau, jung, attraktiv, wehende Haare, ein Z3. Da gehen so etwa 300% aller Männerträume landläufig in Erfüllung. Meiner nicht, ich bin über den Schritt „Der Wagen ist toll und die Frau – sensationell“ bereits hinaus. Das heißt: Ich begnüge mich nicht mehr mit angucken. Once you´ve tasted heaven ...

 

 Der Z3 ist eher etwas für Frauen. Als Mann sollte man sich auf den Beifahrersitz beschränken. Die Frau muss fahren. Vor allem, wenn es eine Frau ist wie sie. Für einem Mann ist der Wagen zu niedlich. Ein Spielzeug. So wie es Frauen für mich immer gewesen waren. Nur nicht sie. Würde sie nie sein, dass merkte ich. Das wollte ich auch so. Sie faszinierte mich, weil ich das spürte, weil es mich herausforderte, weil ich das erste Mal dachte: Wenn jetzt etwas schief läuft, wenn ich es mir mit diesem Menschen verscherze, würde ich zum ersten Mal in meinem Leben traurig sein. Wirklich traurig. Weil ich etwas verloren hatte, dass ich begonnen hatte zu lieben. Ganz langsam und noch gar nicht ausgereift. Aber auf dem Weg dorthin, das fühlte ich. Natürlich war der Z3 ein schönes Spielzeug, aber er sollte ihr gehören, entschied ich. So wie ich, merkte ich. Ich musste grinsen. „Ich schenke dir den Wagen, Baby, er passt einfach so gut zu dir. Genau wie ich“, hörte ich mich sagen, in Gedanken. Sie schaute auf die Straße, fingerte am Radio und entschied sich für einen Sender, der Destiny´s Child brachte. Entschied sie sich auch für mich? Ich wusste es nicht. Jedenfalls schaute sie mich nicht an.

 

Ich würde gerne wissen, was drei Mädels aus Florida, die sich „Kind des Schicksals“ nennen, mit dem Begriff „Bootylicious“ meinen. Arschgeil? Und überhaupt, „Kind des Schicksals“, so ein Blödsinn! „Genau!“ höre ich einen imaginären Boris Becker auf dem nicht vorhandenen Rücksitz rufen. Denn wenn hier jemand ein Kind des Schicksals ist, dann jawohl eins, das in der Besenkammer via Samenraub gezeugt worden ist. Ich merke, wie ich mich mit diesen konfusen Gedanken-Konstrukten davon abzulenken versuche, dass hier irgendwann mal jemand die Initiativer ergreifen müsste. Verbal versteht sich. Jede andere Initiative zwischen ihr und mir scheint momentan weiter weg denn je. Komme mir vor wie 12. Und sie macht nicht so den Eindruck, als wäre sie es, die ein Thema anschneidet. Der Song ist zu ende, ihr Schweigen nicht. Sie blickt auf die Straße, nicht zu mir, der ADAC wäre stolz. Und hinter ihrer schwarzen Sonnenbrille kann man ihre Augen nicht mal schemenhaft erkennen. Ist sie gelangweilt? Ich brauche ein Thema. Einen Satz, der nicht gleichbedeutend ist mit der Aussage: „Okay, dann sprechen wir mal über irgendwas, ist ja egal, Hauptsache sprechen, weil Schweigen so uncool ist und darum schlage ich das TV-Programm vor“. Jede Frau ihrer Klasse würde vermutlich belustigt lächelnd rübergucken und antworten: „Ich gucke kaum Fernsehen“ und denken: „Du kleiner Idiot, war das schon alles?“

 

Ich komme mir blöd vor. Ich halte mich für interessant und witzig, aber es kommt mir vor als hätte ich seit 4.000 Kilometern keinen Ton mehr gesagt. Bald müssen wir irgendwo im Süden von Europa ins Mittelmeer, weil die Autobahn einfach zu Ende ist. Schluss. Und sprechen habe ich bis dahin auch verlernt. Sie hat wahrscheinlich einen Schleudersitz, oder, um es kitschig wie aus Poesiealben zu formulieren: Wahrscheinlich hat sie Flügel, weil sie ja so engelsgleich ist. Wie auch immer es sein wird, sie jedenfalls würde sicher überleben, ich würde hinabstürzen. Keine Vereinigung im Himmel, kein romantisches Ende eines Road Movies, der gemeinsame Tod in den Klippen, nicht mal ich, sterbend in ihren Armen, sondern ich, sterbend, alleine.

 

Na gut. „Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum!“ stand auf jeder zweiten Seite unseres Typen-Buchs in der Unterstufe, eine coolere Bezeichnung für lustig bunt vorbedruckte „Meine Klasse“-Bücher aus der Grundschule. Getreu diesem Motto versuchte ich mir einzureden, ich sei smart wie Tom Cruise in „Cocktail“, hübsch wie Jude Law in „Der talentierte Mr. Ripley“ und elegant wie Brad Pitt in „Meet Joe Black“. Das reichte. Ich sprach sie an.

 „Müssen wir nicht bald mal tanken?“ 

Die Partie war eröffnet. Sensationeller Schachzug. Spanische Eröffnung auf deutscher Autobahn. Sie sagte ...

 

„Ja, das könnte man machen?“

Ach so, sie hat also eine Alternative im Hinterkopf. Hoffentlich lautet die nicht, die Karre auszufahren, bis sie stehen bleibt, dann per Anhalter weiter, und wie das endet, kann ich mir schon denken. Ein holder Jüngling mit Breitreifen kommt angebraust, sieht sie, verschenkt spontan sein Herz und bleibt stehen. Wie sich rausstellt, hat sein 900.000 Marks-Vehikel zwar um die 4 Millionen PS, aber nur zwei Sitze. Einen für ihn, einen für sie. Egal, ich habe ja den Z3 ohne Sprit, keinen Führerschein und gerade wohl eine Abfuhr bekommen. „Ja, das könnte man machen.“

 

Was hätte sie wohl gesagt, wenn ich nach Knutschen gefragt hätte. Gleichgültigkeit, es könnte auch Gleichgültigkeit sein, was sie zwischen die Zeilen gelegt hat. Das wäre: nicht so schön. Aber: verständlich, denn eine Herausforderung war ich in den letzten schweigenden Stunden wohl nicht. Sie aber: auch nicht. So viele Doppelpunkte. Aber keine Doppelsätze. Gibt es überhaupt Doppelsätze?

 

„Nächste Raststätte in 5,5 km“ lese ich vor. Sie ist am Zug.

Sie sagt nichts, sie handelt. Wäre ich mit ihr zusammen, würde ich einen Anfall bekommen, weil sie nicht mit mir spricht. Eigenartig, eine Frau, die nicht spricht. Fast ein Absurdum. Aber sie drosselt die Geschwindigkeit, plötzlich überholen uns einige Wagen, sie schert in die Ausfahrts-Schneise. Sie wird hier raus fahren, halten. Tanken. Ich rücke mich im Sitz möglichst aufrecht hin, da ich zuletzt schon etwas tiefer in die Kissen gesunken bin. Verzweiflung? Ich fühle mich wie ein Teenage-Dirtbag, das nicht sprechen kann. Hoffentlich sagt sie etwas. Der Wagen stoppt bei Zapfsäule 7. Eine Glückszahl? Ich steige aus, sie schiebt ihre Sonnenbrille hoch. Guckt sie mir auf den Arsch? Ich weiß nicht. Ich wähle den Schlauch „Super“. Wie sie, denke ich. Super. Ich gehe um den Wagen herum, den Schlauch in der Hand. Ich gucke sie nicht an. Wenn sie nicht aussteigt, ist alles verloren.

 

Sie steigt aus. Wenn sie jetzt versuchen würde, auf süß zu machen oder wenigstens auf kleines Mädchen. Dann könnte sie so etwas Bescheuertes sagen wie „Ich will ein Eis“ oder „Ich habe Hunger“. Dann könnte ich – ritterlich – den Helden spielen und ihr diesen Wunsch ohne Zögern erfüllen. Sie würde sich bedanken, vielleicht eins ihrer unwiderstehlichen Lächeln lachen und der erste Schritt wäre getan. Ein Eis, ja, wenn sie ein Eis wollen würde, das wäre gut. Über Eis kann man trefflich diskutieren, wenn man sonst keine Thematik hat. Früher, ja ja, immer das Calipo Eis, aber eigentlich nur, weil es neu war, geschmeckt hat es nie, und lustig war es auch, weil auf der Packung stand „Auf und nieder immer wieder“ und in der Grundschule, das muss jetzt mal gesagt sein, da klingt das so verwegen, dass man jedes mal aufs neue heimlich auf das Ende der Packung geguckt hat und verschwörerisch gelächelt hat. Denn es stand natürlich wieder dort, jedes Mal. Aber trotzdem irgendwie immer eine Entdeckung. So eine Frau hätte ich gerne. Immer wieder anschauen, immer wieder unterhalten, und immer etwas Neues entdecken, das eigentlich lieb gewonnen und bekannt ist, aber irgendwie doch jeden Tag neu. Spannung vs. Tradition. Warum will sie kein Eis? Ich könnte über die gute Idee referieren, dass Langnese Flutsch Finger und Brauner Bär wieder auf den Markt bringt. Retro. Was in der Mode gilt, gilt jetzt scheinbar auch für Eis. Alles kommt wieder. Oder ich könnte sie mit unnutzem Wissen darüber unterhalten, dass Langnese in Frankreich Motte heißt und eigentlich in jedem Land anders, obwohl die Karten gleich aussehen und auch das Eis. Nur nicht der Name. Und die Verkäufer. Und die Sprache. Der Tank ist voll. Toll.

Der Moment ist günstig, denn mein Handy klingelt. Anna. Ich hätte nicht rangehen sollen.

 

„Hallo?“

„Hey, wo bist du?“

 Ich sehe meine Fahrerin aus dem Toiletten-Block an der Tankstelle kommen.

 „Unterwegs.“

„Oh, wie gesprächig. Störe ich vielleicht?“

„Nein, äh, nein.“

„Also?“

„Also was?“

„Wo du bist? Wir gehen heute ins Cliff und dann mal sehen, vielleicht in die Stadt, keine Ahnung, da ist irgend so ein Straßenfest.“

„Oh ja, hört sich gut an!“

„Hört sich gut an, sag mal, was ist mit dir denn los? Ich störe doch, oder? Vögelst du gerade?“

 

Ich verstehe Anna nicht. Ihre Entwicklung. Als wir noch zusammen waren, hat sie solche Worte nie benutzt. Und war süß. Vögeln hört sich aus dem Mund einer Frau so obszön an, fast billig.

 

„Nein. Ich bin einfach etwas müde!“

„Müde. Ach so, klar. Kommst du mit? Was ist?“

„Hältst du das für eine gute Idee?“

„Warum nicht?“

„Weil du dich betrinkst und mit deinen entsetzlich affektierten Freundinnen rumtanzt. Ich passe da nicht hin, ich bin ein Nicht-Wie-Wild-Rumhopser, wenn es keinen Grund gibt!“

„Ach, weißt du, was du bist? Du bist ein Spießer!“

„Wenn es dich glücklich macht, bitte.“

„Woher willst du wohl wissen, was mich glücklich macht, Kleiner!“

 

Da war sie wieder, blitzt für einige Sekunden auf. Die alte Anna. Laut, aber hinreißend.

 

„Ich will ne Cola“

 

Das war nicht Anna. Ich drehe mich um. Sie ist wieder da. Ich gerate etwas in Hektik. Ich hoffe, sie merkt es nicht. Ich deute mit meinen Gesten an, dass mich das Telefonat nervt. Trotzdem, fällt mir ein, hat Anna in einer Minute mehr gesagt als sie in den letzten drei Stunden. Aber Anna ist eben nicht interessant in diesem Moment.

 

„Ich verrate dir ein Geheimnis. Ich bin nicht in Hamburg. Ich kann gar nicht mit heute Abend.“

„Ausrede. Das fällt dir ja früh ein.“

„Willst du gar nicht wissen, wo ich bin?“

„Zu Hause im Bett wahrscheinlich!“

„Zu Hause im Bett, ja.“

 

Ich lege auf. Später werde ich behaupten, der Akku war leer, oder Netz abgebrochen. Egal. Sie ist wieder da, Ich versuche ein Lächeln. Sie ist traumschön. Ihre Hände sind nass. Schweiß? Glaube ich nicht. Solche Frauen schwitzen nicht. Ich nicke und gehe rüber zum Shop. Eine Cole. Light? Keine Ahnung …

 

Sie will mitkommen. Das ist gut. Oder? Oder glaubt sie nur, ich würde ihr sonst die falsche Cola mitbringen? Egal, ich beschließe, dass ich mich nicht mehr möglichst natürlich geben will, das geht nämlich bestimmt schief. Ich rede mir ein, sie ist ein Typ. Ein Kumpel. Alles locker. Easy. „I´m easy like Sunday Morning“ …

 

Bis zum hell erleuchteten Aral-Shop-Eingang bin ich soweit, dass ich fast glaube, ich müsste mich mit ihr über Fußball unterhalten, so ernst nehme ich die Variante, sie als Mann zu betrachten. Dann überholt sie mich an einem Regal mit Schokoriegeln. Ich schaue ihr hinterher, wie übrigens jeder andere Typ hier in dem Shop auch. Einige recken die Hälse, korrigieren ihren Gang, gehen plötzlich zurück, interessieren sich auf ein Mal für die König der Löwen-Plüschtiere, weil sie gleich daneben am Eisfach steht und im Angebot wühlt. Dabei steht sie auf Zehenspitzen und balanciert sich aus. Hier drin läuft, wie passend, „Who´s gonna drive you home, today?“

 

 Ein Jeans-Typ mit zu engem Oberteil und zu Sonnenstudio-verwöhnter Haut beugt sich zu ihr rüber, sie merkt es nicht, aber ich. Er will an ihr riechen. Sie ist eine Attraktion, das wusste ich. Und damit doch kein Kumpel mehr. Ich greife ein. Das kann so nicht weitergehen. Mein männlicher Stolz siegt. Ich schnappe mir eine Flasche Cola, drehe sie in der Hand um und halte sie ihr wie ein Mikrofon unter die Nase.

 

 „Hallo, mein Name ist Johannes Baptist Kerner und ich habe eine Frage: Glauben sie auch, dass ich der Schwiegersohn des Jahres bin?“

 

Was macht er da? Ich bin ein bisschen verunsichert. Johannes B Kerner und Schwiegersohn des Jahres? Meine Ma hat neulich gesagt wenn ich Dieter Bohlen heiraten würde, dann wäre das ein Grund mich zu enterben. Und Kerner? In Begeisterungsstürme würde sie wahrscheinlich auch nicht ausbrechen. Mein Dad vielleicht schon eher. Immerhin wäre dann Fußball ein zentrales Thema auf der Hochzeitsfeier. Und Hansi Müller wäre als Gast da. Ich freue mich, dass er was sagt. Jetzt muss mir nur irgendetwas Schlagfertiges einfallen. Neben uns steht ein schmieriger Typ und glotzt rüber. Im Radio läuft Who`s gonna drive you home, today? Der jedenfalls nicht denke ich und gucke die wandelnde Geltube an. Und der der mich nach Hause fahren dürfte hat keinen Führerschein. So ist das Leben. Ich würde dem schleimigen gerne die Zunge rausstrecken. Und was Lustiges antworten. Und nicht mehr cool sein. Das ist nämlich manchmal richtige Schwerstarbeit.

 

 

(Darius A. Diekmann, Frauke Schlickau)

 

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