den Kosovo-Mythos

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Der Kosovo-Mythos von den Balkankriegen 1912-1913 bis zu dem Jugoslawienkrieg 1991-1995

 

 

Von Oliver Bagarić

 

Leipzig, November 2002

 

Inhalt

 

Einleitung

 

1. Historische Hintergründe des Kosovo-Mythos

    1.1. Die Entstehung des Kosovo-Mythos

2. Der Kosovo-Mythos im serbischen Nationalprogramm

    2.1. Der Kosovo-Mythos im 19. Jh. bis zu den Balkankriegen 1912-1913

    2.2. Der Kosovo-Mythos in der Zwischenkriegszeit

    2.3. Der Kosovo-Mythos im „zweiten Jugoslawien“

    2.4. Der Kosovo-Mythos und der Zerfall Jugoslawiens

    2.5. „Missbrauch der Autorität der Wissenschaft“

3. Serbische Orthodoxe Kirche und der Kosovo-Mythos

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

 

 

 

Einleitung

 

Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit dem Thema des Kosovo-Mythos und seiner Wirkung, die er durch verschiedene Epochen in der serbischen Geschichte bis heute entfaltet hat. Dabei sind drei Ereignisse aus der neueren Geschichte für die Untersuchung von Bedeutung, weswegen sich der Kern der Arbeit auf diese drei Ereignisse fokussiert:

 

Erstens sollen die historischen Hintergründe des Kosovo-Mythos in einem Kapitel erläutert werden bevor der Zeitraum vor den Balkankriegen, d. h. die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Anfang des 20. Jahrhunderts untersucht und die Frage nach der Rolle und Wirkung des Kosovo-Mythos gestellt werden kann. Von Bedeutung dabei ist, wer die Propagandisten des Kosovo-Mythos waren, welche Ziele sie damit verfolgten und welche Wirkung dies bei der Zielgruppe, nämlich der serbischen Öffentlichkeit ausgeübt hatte.

 

Ein weiteres Kapitel widmet sich der Zwischenkriegszeit, d. h. der Gründungszeit des ersten jugoslawischen Staates und dem Umgang mit dem bis dahin populären und im öffentlichen Bewusstsein tief verwurzelten Kosovo-Mythos. Die Frage nach Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten steht im Mittelpunkt dieses Kapitels.

 

Schließlich ist es angesichts der Ereignisse in Jugoslawien der 1980er und frühen 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts interessant zu hinterfragen, ob und welche Rolle der Kosovo-Mythos in dieser Zeit gespielt hat. Konnte derselbe Mythos, der seit Jahrhunderten sich erhalten hat, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch einmal propagandistische Mobilisierungsfunktion entfalten? Ist er noch „kommunizierbar“ gewesen und warum? Wie haben sich die serbischen Eliten diesbezüglich verhalten, welche Rolle hat die Wissenschaft dabei gehabt? Das sind die Leitfragen, die in zwei weiteren Kapiteln behandelt werden.

 

Der vorletzte Abschnitt der Arbeit erörtert in einer Fallstudie die Rolle der Serbischen Orthodoxen Kirche (Srpska Pravoslavna Crkva - SPC) im Bezug auf den Kosovo-Mythos. Die SPC hat einen wesentlichen Beitrag zur Jahrhunderte langen Kultivierung des Kosovo-Mythos geleistet.

 

In der Schlussbetrachtung wird die Frage gestellt, welche Rolle der Kosovo-Mythos heute nach der Zerstörung Jugoslawiens und dem propagandistischem Missbrauch noch hat.

1 .Historische Hintergründe des Kosovo-Mythos

 

Der Kosovo-Mythos schöpft aus der Schlacht auf dem Kosovo Polje (Amselfeld), die 1389 zwischen dem osmanischen und unter anderem dem serbischen Heer stattgefunden hat. Das Osmanische Reich, das aus einem zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Anatolien gegründeten Fürstentum hervorging, war am Höhepunkt seiner Macht als es zu den Eroberungen in Südosteuropa ansetzte und auf diesem Wege bis nach Mitteleuropa vordrang. So konnten die Osmanen bereits 1371 an der Marica, in Thrakien eine tatsächlich weitreichende Schlacht gegen ein balkanisches Heer für sich entscheiden. Nach dem sie die südlichen Balkangebiete unterworfen hatten, zogen die Osmanen mit Sultan Murad an der Spitze schrittweise gegen die zentralen Balkangebiete. 1389 auf dem Kosovo Polje stellte sich den Osmanen der serbische Feudalherrscher, Fürst Lazar entgegen. Zu dieser Zeit war der serbische Staat schon lange in Feudaleinheiten zerfallen, denn Zar Dušans Nachfolgern gelang es nach seinem Tod nicht, das Reich zusammenzuhalten und zu stabilisieren. Ein in so viele Feudaleinheiten zergliedertes Reich konnte einem starken Osmanischen Heer nicht lange standhalten. So endete die am 28. Juni 1389 stattgefundene Schlacht mit der Ermordung des Sultans und dem Tod des serbischen Fürsten Lazar und einer serbischen Niederlage, wonach die serbischen Gebiete in eine „lose Abhängigkeit zum Osmanischen Reich“ gerieten und allerdings erst 1459 endgültig unterworfen wurden, was für das etappenweise Vorgehen der Osmanen charakteristisch war.

Im Verlauf der folgenden Jahrhunderte bildeten sich Legenden und Mythen, welche die Schlacht im anderen Licht erscheinen lassen. Dem soll sich der folgende Abschnitt widmen.

 

1.1. Die Entstehung des Kosovo-Mythos

 

Den entscheidenden Beitrag vom Ereignis zum Mythos durch das Mythmaking lieferte dann die Serbische Orthodoxe Kirche, die bald nach der Schlacht auf dem Kosovo Fürst Lazar heilig sprach und ihn neben den Gründer der Serbischen Orthodoxen Kirche, den Heiligen Sava stellte. Fürst Lazar gehört auch neben dem Hl. Sava zu den meistverehrten Heiligen in der Serbischen Orthodoxen Kirche. Dabei wird Lazars Tod als Märtyrertum für den christlichen Glauben und das serbische Volk gesehen. Die Kirche ist also der eigentliche „Gralshüter des Kosovo-Mythos“. Dank der Heiligsprechung des Fürsten Lazar und folglich dem jährlichen Gedenken an den Heiligen und somit auch an die Schlacht, konnte das Ereignis von 1389 Eingang in das Kollektivgedächtnis der Serben finden und sich festsetzen; ab da war nun Lazar und mit ihm auch die Niederlage von 1389 in der Kirche und im Volk über die Jahrhunderte präsent. Dank dieser Ritualisierung durch die unumstrittene Deutungsinstanz Kirche konnten sich nicht andere Schlachten, wie Zum Beispiel die oben erwähnte Schlacht an der Marica als ein einschneidendes Ereignis im Kollektivgedächtnis einprägen.

Die serbische Niederlage 1389 wurde in den folgenden Jahrhunderten zu einer alles entscheidenden Schicksalsschlacht hochstilisiert und als der Ausgangspunkt und Grund allen serbischen Leidens in den folgenden Jahrhunderten unter der osmanischen Herrschaft gedeutet. Die Schlacht war also die Katastrophe und zugleich auch der Ausgangspunkt des Mythos. Jede Entstehung eines Mythos, um mit Worten von Katrin Boeckh zu sprechen, bedarf gewissermaßen eines „äußeren Stoßes“ und deswegen lässt sich auch der Zeitpunkt der Entstehung auch ziemlich genau bestimmen. Der Kosovo-Mythos ist ein Mythenkomplex, der sich aus mehreren Teilmythen zusammensetzt:

Einer davon ist die Entscheidung, vor die Fürst Lazar vor der Schlacht durch die Mutter Gottes gestellt wurde, ob er sich für das Himmelreich, was einer Niederlage gegen die Türken entsprach oder für das irdische Reich, was aber einem Sieg gegen die Türken gleich kommen würde, entscheide. Lazar entschied sich für das Himmlische Reich und deshalb ging er mit seinem ganzen Heer unter, was von den „moralischen Eigenschaften der Serben, die [...] denen von Moses sowie den des neuen Testament entsprechen“, zeugt. In diesem Teilmythos finden wir einige Analogien zu bekannten Bibelstellen des Neuen Testamentes, zum Beispiel die vom Untergang Lazars und dem Opfertod Christi, und zwar durch einen Verrat (dort Judas hier der Schwiegersohn Lazars, Vuk Branković) oder die Parallele, dass Lazars militärische Niederlage, gleich Christus, in einen spirituellen Sieg (im Jenseits) umgedeutet wird. Es ist eine für das Volk verständliche und aus dem Gottesdienst vertraute Sprache, Bilder und Gleichnisse. Der mythische Gedanke entsteht, in dem die Serben für das Himmelreich kämpfen und sterben würden.

 

Bis hier kann man von einem ausschließlich sakralen Mythos sprechen. Gemäss der Auferstehung Christi werde aber eines Tages auch der Zeitpunkt der Auferstehung des serbischen Volkes, d. h. einer Wiedererrichtung des mittelalterlichen serbischen Staates kommen. Dieser Punkt ist ganz wichtig, weil er als Gedanke über die Jahrhunderte überlebte und kultiviert wurde, bis er dann im 19. Jahrhundert in Form von politischen Programmen wiederaufblühte und erst am Ende des 20. Jahrhunderts vergessen zu sein scheint. Nicht desto trotz tut sich hier ein Widerspruch, zwischen der Entscheidung Lazars für das Himmlische Reich und der Hoffnung auf ein Wiedererstarken des serbischen Staates auf. Diese Hoffnung wurde nie aufgegeben und wird in der Person des Miloš Obilić verkörpert. Obilić brachte - so die Überlieferung - nach der Schlacht Sultan Murad um und zeigte damit, dass er sich mit der Niederlage nicht abfand. Mit der Figur des Miloš Obilć wird ein säkulares Motiv integriert. Mit der Säkularisierung des Mythos wird seine Wandlung von einem rein sakralen Mythos, wie er in seiner Entstehungsphase war, zu einem nationalen Mythos vollzogen. Die Trauer um das verlorene Land hat trotz des „spirituellen Sieges“ nie aufgehört. Der Lazarkult ist - wie Sundhaussen anmerkt - eine Schöpfung des höheren, gebildeten Klerus.

 

Die Ereignisse von 1389 wurden später in der Volksdichtung besungen und phantasievoll ausgestaltet. Da der Hergang nicht in Einzelheiten überliefert ist, war es besonders einfach, Legenden um diese Schlacht zu weben. Was anderes blieb nach der Unterwerfung Serbiens durch die Osmanen auch nicht übrig, als sich die Erinnerung an die „glorreiche“ Geschichte und den „ruhmreichen“ Staat von Zar Dušan in Gesängen wach zu halten und es weiter zu tradieren. Dass dieser mittelalterliche Staat gar nicht so prosperierend war, und dass er nicht mit der Schlacht auf dem Kosovo Polje, wie besungen, zugrunde gegangen ist, sondern Jahre vor dem osmanischen Ansturm, wurde bewusst verdrängt und stattdessen ein Mythos sorgsam gepflegt. Epik war und ist also die zweite Säule des Kosovo-Mythos neben der Orthodoxen Kirche. Da die Kirche die einzige serbische Institution während der Jahrhunderte langen Besatzung war, konnte nur sie als Hüterin der Tradition fungieren. Auf das besondere Verhältnis der Serbisch Orthodoxen Kirche zum Kosovo-Mythos werde ich an einer anderen Stelle eingehen.

 

Mythen sind allgemein Instrumente der Vereinfachung komplexer Prozesse oder geschichtlicher Zusammenhänge und geben einfache Antworten auf außergewöhnliche Ereignisse aus der Geschichte einer Gemeinschaft mit dem Sinn, Einheit und Einigkeit innerhalb der Gemeinschaft zu stiften. Im Falle des Kosovo-Mythos werden mehrere Arten von Mythen in einem zusammengefasst. Klar ersichtlich ist der Mythos des Leidens, wie Schöpflin konstatiert. Dabei sieht sich das serbische Volk als eine für andere Völker leidende Gemeinschaft, die als antemurale christianitatis gegen die muslimischen Eroberer kämpfte und Jahrhunderte unter dem „Türkischen Joch“ litt, damit die restliche Christenheit vor diesem „Übel“ bewahrt blieb. Da diese Rolle des serbischen Volkes scheinbar in der Welt nicht honoriert wird, entstehen somit Voraussetzungen über den Mythos der ungerechten Behandlung durch andere Völker. Aus dem Kosovo-Mythos ist ebenfalls ein klarer Territorialmythos zu erkennen. Aus diesem Mythos wird dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein politisches Programm, das den Kosovo bis zum Ende des letzten Jahrhunderts als die „Wiege der serbischen Nation“, „Serbisches Heiliges Land“ und „Serbische Urgebiete“ definiert und ohne Rücksicht auf Entwicklungen und Veränderungen der demographischen Struktur für sich beansprucht. Hier liegt eine historische Argumentationsweise vor, während häufig an anderen Stellen wiederum demographisch argumentiert wird, wenn es darum geht, alle Serben in einem Staat zu vereinigen.

 

2. Der Kosovo- Mythos im serbischen Nationalprogramm

 

2.1 Der Kosovo-Mythos im 19. Jh. bis zu den Balkankriegen 1912-1913

 

Der Anfang des 19. Jahrhunderts war für Serbien mit vielen Aufständen verbunden, der durch den Gewinn der Autonomie 1830 mit Erfolg gekrönt sein sollte. Das Osmanische Reich befand sich schon seit geraumer Zeit im Niedergang und verlor in seinen Balkanprovinzen rasch an Macht, Einfluss und Territorium, was 100 Jahre später mit dem Verlust der ganzen Balkanhalbinsel sein Ende finden sollte. Andererseits muss man die in ganz Europa stattfindende Nationalstaatsbildung auch in Südosteuropa im Blick behalten. Jedoch konnte nur ein Nationalstaat und überhaupt nur ein Staat auf einem bestimmten Gebiet existieren, so dass die Nationalstaatskonzeptionen der Balkanvölker früher oder später mit dem Osmanischen Reich und per se untereinander in Konfrontation geraten mussten.

 

Der Kosovo-Mythos wurde im 19. Jahrhundert zu einem Teil des serbischen politischen Programms, er wird in einen nationalen Mythos integriert und ganz bewusst als Instrument zur Mobilisierung der serbischen Öffentlichkeit und des serbischen Volkes nicht nur für den Kampf gegen das Osmanische Reich eingesetzt. Holm Sundhaussen hält es sogar für unmöglich, die Ereignisse, die seit einem Jahrhundert um Kosovo herum passieren (von den Balkankriegen bis zum Kosovo-Krieg 1999) zu erklären, ohne den „Hintergrund einer mit Legenden und Mythen durchsetzten, spirituell verklärten Gedächtniskultur zu verstehen, mit kollektiven Phantasien, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum ideologischen Kern der serbischen Identität ausgestaltet wurden“. Der Kosovo-Mythos hat den „Opferkult in den Volksgeist“ eingegliedert, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts und der Suche nach nationaler Identität die Herausbildung eines spezifischen Verhältnisses der Serben zu ihrer Geschichte und einer besonderen Wahrnehmung der Gegenwart beeinflusst hat. Ebenso wurde dem Krieg als Mittel der nationalen Vereinigung eine wichtige Bedeutung beigemessen. Ein spezifisches Verhältnis zur Geschichte bedeutet oft ihre Verklärung, Mythologisierung und nicht ihre Erklärung. Boeckh sieht darin den Grund, warum Mythen eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von historischen Ereignissen spielen.

 

Wichtig ist es, die Grundidee des serbischen politischen Programms im 19. Jahrhundert zu kennen und das ist die Errichtung eines serbischen Staates, der an die Grenzen des mittelalterlichen serbischen Staates reicht und alle Serben umfassen sollte. Dafür steht das von dem serbischen Innenminister Ilija Garašanin entworfenes Geheimprogramm, das „Načertanije“. Der Kosovo-Mythos hat dabei eine wichtige Rolle gespielt, da er über die Jahrhunderte, in denen kein serbischer Staat existierte, staatliche Tradition in sich getragen und im Mythos tradiert hat und ein Grundelement des serbischen Protonationalismus, wie es Manojlović nennt, dargestellt. Diese schlummernden staatlichen Traditionen werden in der Zeit der Nationalstaatsbildung wieder entdeckt und benutzt. Auch die Poesie trug Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts, vom Kosovo-Mythos stark beeinflusst, einen starken „ritterlichen und kriegerischen Geist, der zur ‚Rache des Kosovo’ aufforderte“.

 

Der Kosovo-Mythos wurde also bewusst für die Zwecke einer Expansionspolitik instrumentalisiert. Das geschah durch die Poesie, durch Appelle, durch Feiern und in Erinnerung-Rufen sowie Vergegenwärtigung des Kosovo-Mythos und der Beteuerung der angeblichen Verpflichtungen, die daraus resultieren: Pflichten gegenüber den Ahnen, die ihr Leben für das Kosovo 1389 gegeben haben, die aus der Erinnerung an die „glorreiche“ Vergangenheit des mittelalterlichen serbischen Staates unter Zar Dušan sowie am Festhalten des orthodoxen Glaubens und dessen Tradierung bestand. Die dritte und auch folgenreiche Verpflichtung war die Erinnerung an Kosovo und die Aufgabe, ja die Pflicht, die Niederlage wie die Gefallenen von 1389 eines Tages zu „rächen“. Zunehmend erscheint die Möglichkeit einer solchen Rache gegeben zu sein, bedenkt man die Schwäche des Osmanischen Reiches am Ausgang des 19. Jahrhunderts bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts.

 

Während des Prozesses der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert und insbesondere nach der 1830 zugesprochenen Autonomie ist auch eine veränderte Rezeption des Kosovo-Mythos zu konstatieren, insofern eine Entwicklung vom religiösen Mythos, der in der serbischen Orthodoxie tradiert wurde, zu einem nationalen Mythos zu beobachten ist, also eine Konstruktion des serbischen Nationalmythos, der teilweise in den St. Veits-Kult übergeht. Freilich bedingt auch durch die veränderten Kräfteverhältnisse auf dem Balkan. In dieser Zeit erweist sich der Kosovo-Mythos zum ersten Mal als grundlegender „ethnizitätsstiftender Mythos“ der Serben. Auch auf andere geschichtliche Ereignisse wird bei der Mobilisierung zurückgegriffen, wie zum Beispiel auf die erfolgreichen Aufstände der Serben zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Erinnerung an vergangene Kriege, „die zeremonielle Inszenierung ihres Gedenkens“ hatten sich auch im restlichen Europa „zu einem Kriegskult im Dienste nationaler Sinnstiftung gesteigert“. In diesem Fall wurden Motivationen für neue Kriege aus Siegen geschöpft. Das Beispiel der Niederlage auf dem Kosovo und die daraus abgeleitete Motivation nach Rache zeigt aber, dass ähnliche Mobilisierungsansätze auch aus Niederlagen möglich waren. Johannes Burkhardt geht sogar soweit und behauptet, die Geschichte selbst sei ein Grund für Kriege.

 

Dieser Prozess muss erst einmal erweckt werden, was unterschiedlich erfolgen kann: Zum Beispiel durch Schriftsteller, durch Poesie oder aber auch durch Schulbücher. Durch die epische und religiöse Form waren die Hauptpunkte des Kosovo-Mythos schon in der Bevölkerung verankert. Sie wurden auch im Kosovo unter der verbliebenen serbischen Bevölkerung Ende des 19. Jahrhunderts in Schulen durch Lehrer und Schulprogramme aus Belgrad verbreitet und neu gelehrt. Seit 1869 kamen Schulbücher regelmäßig aus Belgrad nach Kosovo, in denen Geschichte und die „Heldenlieder“, welche die Helden des Kosovo und andere serbische Helden besangen, die Schwerpunkte des Unterrichts bildeten. Wenn es darin um Helden und die allgemein bekannten Lieder ging, war das politische Mobilisierungspropaganda in einer für jedermann verständlichen Sprache und man konnte sich sicher sein, dass sie auch jeden erreichen würde. Die Volks- und Heldenlieder und insbesondere solche über die Kosovoschlacht waren der spiritus movens in den „Befreiungskämpfen“ der Serben auch während des 20. Jahrhunderts. So konnten 500 Jahre („Leidens“-) Geschichte des serbischen Volkes in Erinnerung gerufen werden und die Botschaft war klar: für das Kosovo müssen wir eine oder besser, die entscheidende Schlacht noch führen.

 

Auch Feier- und Gedenktage aller Art wurden zum Zwecke der Mobilisierung abgehalten. Dabei spielt das 1889 gefeierte 500 jährige Jubiläum der Schlacht auf dem Kosovo eine zentrale Rolle. Die Feier zeigte, dass der Mythos nicht mehr aus dem öffentlichen Leben der Serben, sowohl innerhalb als auch außerhalb Serbiens wegzudenken, sondern „ins Zentrum der nationalen Identitätskonstruktion“ gerückt war. „Die staatliche Politik nahm die Erinnerung an die mittelalterliche Kosovo-Schlacht in den Dienst einer nationalistischen Programmatik, die auf eine nur mittels Krieg zu erreichenden Befreiung aller Serben von osmanischer oder österreichischer Herrschaft gerichtet war“. Die 500-Jahre-Gedenkfeier an die Kosovo-Schlacht, die durch die literarische und künstlerische Intelligenz des 19. Jahrhunderts in nationalpädagogischer Absicht geschaffene patriotische Literatur, kreierten gemeinsam eine fast „’halluzinierende Wirkung des Kosovo-Schlachtfeldes’ in der serbischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts und ließ den Erinnerungsort Kosovo gleichsam zu deren kollektiven ‚psychischen Fixpunkt’ werden“. Das Zusammenspiel zwischen Jubiläum und Mythos scheint ein ganz besonderes zu sein. So stellt Johannes Burkhardt fest, dass „das Jubiläum ein geschütztes Rückzugsgebiet des Mythos“ sei. In diesem Fall dient es aber jedenfalls der Belebung eines Mythos und der Proklamierung eines politischen Programms sowie der Mobilisierung. In dem zitierten Buch über die Kosovo Schlacht und ihre Folgen finden sich Beiträge, die über das Begehen des 500 jährigen Jubiläums in Bosnien-Herzegowina und bspw. Ungarn berichten. Tomislav Kraljačić berichtet in seinem Beitrag über die Jubiläumsfeier in Bosnien-Herzegowina, dass die „Begehung der Feier auf den Widerstand aller politischen Faktoren, die Gegner der serbischen nationalen und politischen Einheit waren“ stieß.

Welche nationale und vor allem politische Einheit der Serben und welche Zeit ist hier gemeint? Diese Aussage Kraljačićs kann man zweideutig interpretieren. Zum einen lässt sich daraus die Stellung Bosnien-Herzegowinas am Ende des vorletzten Jahrhunderts im serbischen Nationalprogramm ableiten, für die Zeit, von welcher der Beitrag handelt. Dank der Rezeption der Ideen Vuk Karadžićs wurde Bosnien als ein serbisches Land gesehen, wonach alle, die das „Štokaviše“ sprechen, Serben sind. Von Karadžić stammt auch der Satz „Srbi sve i svuda“ („Alles und überall Serben“). Dass Bosnien-Herzegowina eine zentrale Rolle im serbischen Nationalprogramm einnahm, bezeugt auch das schon erwähnte „Načertanije“. Dass Kraljačić keinen Bezug zu der politischen Situation der 1990er Jahre (der Text wurde 1991 herausgegeben) genommen hat, lässt sich nicht feststellen. Aus diesem Grunde ist seine Formulierung zumindest missverständlich. Bezüglich der 500-Jahr-Feier hebt aber Kraljačić hervor, dass die bosnische Regierung durch kleine Zugeständnisse an die Serben grössere Manifestationen und nationalmotivierte Demonstrationen geschickt verhindert habe.

 

Bei diesen erwähnten Feiern wurde immer wieder die Uneinigkeit, Neid und Streit unter den Serben als der Grund des Übels ausgemacht und immer wieder verdammt. Beschworen wurde das Gegenteil, gepredigt wurde die Einigkeit des Volkes und der Zusammenhalt. Denn serbische Politiker sahen schwere Zeiten kommen, welche das serbische Volk endgültig auf die Probe stellen würden. Erstaunliche Parallelen ergeben sich für den Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, als ebenfalls Zeit gekommen war, die das serbische Volk „endgültig auf eine harte Probe“ stellen sollte. Die Jubiläumsfeiern sollten dazu dienen, die Ereignisse seit der Kosovo Schlacht von 1389 bis dahin in Erinnerung zu rufen und somit das serbische Volk auf die Einigkeit zu beschwören, sie auf einen Kampf (für das Kosovo) mental vorzubereiten. Die Befreiung des Kosovo rückte in den Mittelpunkt der begangenen Feiern. Diesem Zweck sollte auch die von einem serbischen Dichter vorgeschlagene Gründung der „Kosovijade“ dienen, die alle fünf Jahre stattfinden sollte, um „die Erinnerung an Kosovo wach zuhalten“.

 

Der Kosovo-Mythos ist ein exklusiver Mythos, der das Fremde ausschließt und das Eigene, die eigene Ethnie in den Mittelpunkt stellt. „Politisch sind Mythen der Ausdruck eines primären Ethnozentrismus“. Und speziell der Kosovo-Mythos ist aus der Sicht Potthoffs „von der Idee der blutigen Rache an allem, was türkisch, oder überhaupt, was muslimisch [also auch albanisch oder bosniakisch-muslimisch, O. B.] getragen“, wofür er Beweise nicht nur in der älteren, sondern auch in der neueren Literatur wie z. B. in Draškovićs Roman „Nož“ findet, wo das Moment der ‚Rache für Kosovo’ immer wieder kehre. Dieses Beispiel illustriert sehr schön, wie der Kosovo-Mythos zum Teil einer „höheren Nationalkultur“ wurde. Der Mythos „vermittelt heilige Wahrheiten und entscheidet über Schuld und Unschuld“. Das heißt, dass er von jeder Wirklichkeit und geschichtlichen Tatsachen abgeschirmt ist. Und die Tatsache, dass der anfangs ethnisch neutrale Mythos spätestens im Verlauf des 19. Jahrhundert „nationalisiert“ und mit den erwähnten 500 Jahrfeiern der Kosovo-Schlacht 1889 auch „popularisiert“ wurde, zeigt seinen exlusivistischen Charakter. So wurde im Inhalt des Mythos geleugnet, dass 1389 nicht nur serbisches Heer gegen die Osmanen kämpfte. Auch Heere anderer christlicher Herrscher und Fürsten des Balkans, inklusive des albanischen Heeres unter der Führung der Fürsten Balsha und Jonima nahmen an der Schlacht gegen die Eroberer teil. Es waren z. B. auch der bosnische Vojvode Vlatko Vuković und andere kroatische, bulgarische und walachische Hilfstruppen anwesend.

 

Aber um aus dem einfachen Mythos einen nationalen Mythos zu machen, mussten solche Selektierungen vorgenommen werden, der Mythos wurde gewissermaßen „ethnisch gesäubert“. Denn die Albaner wurden des Verrates durch ihren mehrheitlichen Übertritt zum Islam beschuldigt und gern wurden sie als Feinde des serbischen Volkes bezeichnet. Sie werden, ähnlich wie die bosnischen Muslime für den „Genozid“ am serbischen Volk während des „türkischen Jochs“ verantwortlich gemacht, denn durch den Übertritt zum Islam seien sie „zu den Vollstreckern der osmanisch- türkischen ‚Despotie’“ geworden. Sie haben also demnach Verrat am Christentum geübt. Sie hätten die Serben verraten, weil sie „ihr“ Siedlungsgebiet usurpiert und die „heiligen Stätten“ der serbischen Orthodoxie „entweiht“ hätten. Hier schon entsteht der „Verfolgungsmythos“ der Serben, der auch Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahren erfolgreich instrumentalisiert und zu einer Verschwörungstheorie ausgeweitet wurde („Die ganze Welt ist gegen Serbien“). Rache sollte dafür an ihnen geübt werden. Und nicht nur physische Rache, sondern diese Vorannahme sollte die Grundlage für die serbische Albanerpolitik während des 20. Jahrhunderts sein. So fällt es auch nicht schwer, die Begeisterung für den Krieg nachzuvollziehen, bedenkt man die Propagandamaßnahmen, die schon Jahrzehnte vor dem ersten Balkankrieg ergriffen wurden. „Sobald der ‚Ukaz’ zur Mobilisierung bekannt gegeben wurde, herrschte in der Stadt [Belgrad] eine unbeschreibliche Begeisterung, Freude und Feier“, wurde von einem Augenzeugen und Teilnehmer des ersten Balkankrieges berichtet. „Von den Häusern zu den Versammlungsorten ist man in Begleitung von Musik, mit Blumen und Fahnen geschmückt marschiert“ und „jeder war stolz, dass wenigstens ein Familienmitglied in den Krieg gezogen ist, um die versklavten Brüder“ zu befreien. Diesen Kriegsenthusiasmus kennen wir auch von den Berichten und Bildern aus Deutschland am Anfang des Ersten Weltkrieges und anderen Orten. Der erste Balkankrieg hat vergleichsweise nicht lange gedauert, war aber mit Opfern und hohen Kriegskosten auf allen Seiten gekennzeichnet. Im Kosovo und Teilen Makedoniens wurde der Krieg von heftigen serbisch-albanischen Kämpfen, „massiven Ausschreitungen serbischer Truppen und paramilitärischer Einheiten (Četnici) an der albanischen Bevölkerung sowie von Massenflucht, Vertreibung und Zwangsbekehrung der Muslime zur Orthodoxie begleitet“. In der Kriegsgeschichte spielten die Balkankriege eine bis dahin unbekannte Rolle, da einige neue Elemente der Kriegsführung und des Krieges sich da schon abzeichneten, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts sich dann voll entfalten sollten. Die Ethnizität war neben dem „Ineinanderfließen der „regulären“ und irregulären“ Gewalt“ ein Merkmal dieses Krieges, das eine sehr wichtige Rolle spielte.

Die Existenzvernichtung des andersethnischen Gruppenangehörigen war der Beweggrund der Kriegsführung und das Ziel der Kriege war eine ethnische Homogenisierung der neueroberten Gebiete. In diesem Zusammenhang hat Wolfgang Höpken den Begriff der „ethnischen Staatenkriege“ geprägt. Die Balkankriege weisen in ihren Zügen einen eindeutigen Vernichtungscharakter auf, was sich dann im 2. Weltkrieg manifestiert und zu den Kriegen des 20. Jahrhunderts gehört, andererseits aber tragen sich auch die Tradition des 19. Jahrhunderts in sich, in dem sie eben gegen das Osmanische Reich kämpfen, also die Befreiung von einer fremden Herrschaft zum Ziel haben. Damit sind die Balkankriege ein „Grenzphänomen“ des 19. und des 20. Jahrhunderts. Eine andere Besonderheit der Balkankriege ist ihre Entgrenzung der Gewalt, die mit der Abgabe des Gewaltmonopols des Staates in die Hände paramilitärischer Einheiten einhergeht. Darunter hatte vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden, wovon zahlreiche Zeugenaussagen sprechen. Das Aufreißen der Grenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten ist für die Balkankriege ebenfalls charakteristisch.

Hierunter hat besonders die albanische Bevölkerung des Kosovo zu leiden gehabt, die Verluste en gros hinnehmen musste. „Unsere Armee hat die albanischen (serb. Original: arnautske; beleidigend für albanisch, O. B.) Häuser herausgefunden und in den Häusern Waffen und Munition und die Arnauten, die gleich getötet wurden, und an diesem Tag gab es grosse Zahl an getöteten Arnauten“. In den Balkankriegen konnte all das ausgelebt werden, was Jahrzehnte propagiert wurde, hauptsächlich mithilfe des Kosovo-Motiv, das wie gesehen „zum zentralen Anknüpfungspunkt der mentalen Kriegsvorbereitung wurde“.

 

Man sollte aber vorsichtig damit sein, die Gewalt der Balkankriege allein der Mobilisierungspropaganda durch den Kosovo-Mythos zuzuschreiben. Der Kosovo-Mythos als solcher wäre nicht gefährlich, ohne dass er auf die Realitäten und Gegenwart am Anfang des 20. Jahrhunderts projiziert und gedeutet worden wäre. Denn die Tatsache, dass der „konkrete Ort des ‚Erinnerns’ von den ‚Erbfeinden’ der serbischen Nation in Besitz genommen wurde, und dass die Spannungen zwischen orthodoxen Serben und muslimischen Albanern als Fortsetzung des Jahrhunderte langen ‚Kampfes zwischen Christentum und Islam’, als Teil eines ‚ewigen Krieges’ verstanden werden“, macht ihn gefährlich und die Folgen seiner Wirkung höchst unberechenbar. Darin wird also die Gefährlichkeit der Mythen deutlich, nämlich dann, wenn sie politisch aufgeladen und instrumentalisiert werden, ist ihre Wirkung nahezu nicht mehr kontrollierbar. Das ist es, was Reinhard Lauer als das „Wüten der Mythen“ bezeichnet.

 

Die Balkankriege wurden in Serbien als „Rache für Kosovo“ gedeutet. Mit dem ersten Balkankrieg war aus der Sicht der serbischen Historiker und der Öffentlichkeit damals ein Kreis geschlossen worden. Endlich wurde die Schande von 1389, die das serbische Volk erdulden musste mit 1912 beseitigt. Die Albaner wurden mehr oder weniger offen unterdrückt. Der serbische Staat versuchte durch Kolonisierung des Kosovo das demographische Bild zugunsten der Serben zu verändern, was ihm aber nicht gelungen ist. Ein grosser Teil der Siedler, die nach den Balkankriegen in den Kosovo kamen, verließen ihn in Ermangelung einer wirtschaftlichen Prosperität auch schnell wieder. Darüber hinaus hat der über dem Kosovo neukonstituierte serbische Staat viele Albaner vertrieben. Die von dem Politikberater und Mitglied der Attentatverschwörung in Sarajevo von 1914, Vasa Ćubrilović, geforderte Vertreibung der Albaner, sollte sogar durch einen Vertrag mit der Türkei legalisiert werden. 1938 wurde tatsächlich ein Vertrag mit der Türkei unterzeichnet, der die Aussiedlung von 40.000 muslimischen Familien aus dem Kosovo und Makedonien in die Türkei (!) vorsah, der aber wegen Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht realisiert wurde.

 

Mit dem Balkankrieg schliesst sich ein Zirkel, und eine neue Epoche in der serbischen Geschichte beginnt dann mit dem Ersten Weltkrieg. Der nach dem Ersten Weltkrieg neugeschaffene Staat verlangte nach „neuen Geschichtsdarstellungen und Deutungen“. Nun war die serbische Nation in einen jugoslawischen Staat eingebettet und interessant war nun die zunehmende Kritik an epischen Traditionen, die bis vor paar Jahren noch ein Antrieb für das Erlangen der Freiheit waren. Da der neue Staat und jeder Erfolg eigentlich bis dahin nur durch Kampf und Krieg erreicht wurde, ist die Einbettung des Krieges als solchen, als Voraussetzung der Freiheit und der eigenen Staatlichkeit in die Geschichtsinterpretation von Interesse. „Im Krieg fand man die Elemente für die Formierung der staatlichen Nationalideologie“. Krieg spielt eine zentrale Rolle, insofern Aufstände und Krieg als Voraussetzung für die nationale Wohlfahrt gedeutet werden.

 

2.2 Der Kosovo-Mythos in der Zwischenkriegszeit

 

Nach dem Ersten Weltkrieg entstand auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawiens ein neuer Staat, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Somit dürfte auch der serbische „Traum“ in Erfüllung gegangen sein, dass alle Serben in einem Staat lebten. Es gab aber doch „etliche Wermutstropfen im Becher der nationalen Freude“. Nämlich Serbien war seit 1878 ein international anerkannter Staat, der nun seinen Namen zugunsten eines Staates, der seit 1929 Jugoslawien hieß, aufgab. Auch stellten die Serben in dem neuen Staat nicht die Bevölkerungsmehrheit dar. Und so konnte man die historische Mission, die „Heilige Pflicht“, einen neuen, starken serbischen Staat nach dem Vorbild des mittelalterlichen serbischen Staates zu errichten, als nicht in allen Teilen erfüllt betrachten.

 

Der Kosovo-Mythos trat in dem neugeschaffenen Staat einerseits etwas in den Hintergrund, da aber, wo er noch vorhanden war, erfuhr er eine Umdeutung im legitimatorischen Sinne bezüglich des neugeschaffenen Staates. Er erlebte also einen Kontinuitätsbruch, wahrte aber andererseits seine Kontinuität durch Umdeutung. An seine Stelle trat nun der Mythos des Ersten Weltkrieges als Staatsgründungsmythos ein. Der Umstand, dass Serbien als Siegerstaat aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen ist und somit auch eine distanzierte Betrachtung des Krieges erschwert war, trug zu einer Heroisierung des Krieges bei. Der auch in Südosteuropa äußerst verlustreiche Erste Weltkrieg wurde in den „traditionellen Metaphern einer romantisierenden Helden- und Opferverehrung gedeutet, in denen der Krieg als Sinnbild archaischer Tugenden, als Wiederholung des ‚kosovsko junaštvo’- des ‚Heldentums’ der Schlacht auf dem Kosovo erschien“. Doch seit den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts ist dann eine Jugoslawisierung des Kosovo-Mythos zu beobachten. Die südslawische Einigung im ersten Jugoslawien wird mit der Kosovolegende und Zar Dušan in einen Zusammenhang gebracht. Während des Ersten Weltkrieges sagte der serbische Ethnologe Tihomir Đorđević: „...that Yugoslav unity had been the ultimate goal of Tsar Stefan Dušan“. Der Kosovomythos sollte ein gesamtjugoslawisches Gut werden, er sei der essentielle Geist der jugoslawischen Einheit, oft auf eine kuriose Art und Weise, wie dieses Beispiel beweist.

Exemplarisch sei die Ermordung des Königs Aleksandar 1934 in Marseille genannt. Sehr gerne und bedenkenlos wurde sein Tod mit Lazar und dessen Opfer für Kosovo gleichgesetzt. So sagte der Herausgeber der Jugoslovenske Novine, Juraj Demetrović: „Alexander chose the heavenly kingdom in order to secure the future of Yugoslavia“. Welchen Symbolwert die Kosovolegende hatte, zeigt auch die Erklärung des Patriarchen der Serbisch Orthodoxen Kirche anlässlich der Kapitulation der jugoslawischen Regierung am 25.März 1941, in der er dieselbe als einen „Verrat am Kosovo- Ethos“ bezeichnete.

 

Welche verheerenden Wirkungen und Sprengkraft in der Tradierung des Kosovomythos liegt, ist nicht nur in den Grausamkeiten der Balkankriege deutlich geworden, sondern auch in dem neuen Staat und der Politik gegenüber eigenen Bürgern albanischer Volkszugehörigkeit. Die Albaner waren eine grosse leidtragende Volksgruppe in dem neuen Staat, die zahlreich, aber entrechtet war. Sie standen unter permanenter Überwachung der Behörden, waren Verhaftungen, Misshandlungen und Repressalien anderer Art ausgesetzt. Die Pläne der Regierung, wie weiter oben angedeutet, liefen auf die „Beseitigung dieser Volksgruppe hinaus, sei es durch Assimilierung, durch Zwangsvertreibung oder durch physische Vernichtung“. Es gab eine Verordnung von 1920, welche die Grundlage der serbischen Kolonisierungspolitik der Zwischenkriegszeit bildete. Siedler aus anderen Teilen Jugoslawiens wurden angeworben und in verkehrsgünstigen Gebieten des Kosovo angesiedelt, gleichzeitig wurde Druck auf die albanische Bevölkerung ausgeübt, aus dem Kosovo auszuwandern. „Es herrschten halbkoloniale und von strikter ethnischer Diskriminierung der Mehrheitsbevölkerung gekennzeichnete Verhältnisse ...“. Ein beliebtes und wohl auch „effektives“ Druckelement auf die Albaner war die 1935 begonnene und bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges dauernde Agrarreform im Kosovo, welche die Behörden oft dazu nutzten, die albanische Bevölkerung zu enteignen, zu vertreiben, deren geschlossenes Siedlungsgebiet zu zerschlagen und das Land den Neusiedlern zu geben.

 

Cirka 13.000 Familien (70.000 Menschen ungefähr) kamen in der Zwischenkriegszeit nach Kosovo als Neusiedler. Doch wie oben angemerkt, verließen viele Siedler das Land bald wieder. Das hat mehrere Gründe. Zum einen fehlte es an modernem Gerät, mit dem sie das geschenkte Land hätten effizient bearbeiten können, und zum anderen waren die bürokratischen Hürden sehr hoch und die Beamten korrupt. Dazu war der Lebensstandard und die medizinische Versorgung vor allem für die aus der Vojvodina stammenden Bauern, im Vergleich zu ihrer Herkunftsregion weitaus niedriger, so dass praktisch kein andauernder Anreiz zum Bleiben bestand. Im Jahre 1935 gab es eine neue Enteignungswelle, die zahlreichen albanischen Familien die Existenzgrundlage entzog, denn der Staat billigte nur noch 0,4 Hektar pro Person. Bezüglich dieser 0,4 Hektar zitiert Reuter aus einem offiziellen serbischen Dokument, das die antialbanische Kolonisierungspolitik in brutaler Weise sichtbar macht: „Das liegt unter dem Existenzminimum. Aber das war und ist unser Ziel: Wir müssen ihnen das Leben unmöglich machen und sie so zur Auswanderung zwingen“. Eine gänzliche Vertreibung fand aber nicht statt, wie z. B. 1999. Die Gründe sind bislang nicht vollständig erforscht gewesen, man vermutet jedoch, dass nach der Vertreibung eines Teils der Bevölkerung, die serbische Politik auf eine Assimilierung des anderen Bevölkerungsteils setzte. Jedoch schaffte die serbische Politik durch die verschiedenen Maßnahmen ihr Ziel, das demographische Bild Kosovos umzukehren, nicht. Die albanische Bevölkerung blieb dank der hohen Geburtenrate die mehrheitliche Bevölkerung des Kosovo.

 

2.3 Der Kosovo-Mythos im „zweiten Jugoslawien“

 

Der Zweite Weltkrieg war auf dem Boden des jugoslawischen Staates ein mehrdimensionaler und ebenso opferreicher und aufreibender Krieg. Neben dem Kampf der von Tito angeführten Partisanen gegen die deutsche Besatzung, fand parallel ein nicht weniger brutaler Bürgerkrieg unter den Völkern Jugoslawiens statt. Der Zweite Weltkrieg war die Geburtsstunde des „zweiten Jugoslawiens“, aus ihm heraus bezog der daraus entstandene Staat seine Legitimation. Trotz der erheblichen Gewalt-Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, konzentrierte sich das kollektive Gedächtnis in der Nachkriegszeit gerade an den kriegerischen Erfahrungen und am Krieg als solchen, dessen Wirkung in Jugoslawien anders als beispielsweise in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft keinen „die Gewalt stigmatisierenden ‚Gewaltschock’“ auslöste, sondern viel mehr förderte er durch die Verherrlichung und Idealisierung des Partisanenkampfes die „Akzeptanz der Gewalt als latente und unter Umständen ‚notwendige’ Realität“. An diesem um den „Krieg zentrierten kollektiven Gedächtnis“ haben weder die genannten Erfahrungen noch die mit ihm einhergehenden „systempolitischen und ideologischen Brüche etwas Grundlegendes geändert“. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sind gewaltbejahende kollektive Erinnerungsmuster festzustellen, die lediglich den Inhalt, aber nicht die Form oder das Prinzip geändert haben. Alte Erinnerungsfiguren wurden nun auf ihre das System legitimierende oder das Zusammenleben der Völker in einem Staat unterstützende Wirkung überprüft und neubewertet. Die ausschließlich im Dienste nationaler Identitätsstiftung stehenden Erinnerungsbilder wie der von den Serben forcierte Kosovo-Mythos oder die Balkankriege wurden marginalisiert, andere Topoi wiederum, wie „jenes idealisierte Bild des Ersten Weltkrieges verloren jetzt aufgrund des ideologischen Antagonismus des sozialistischen Jugoslawien zu seinem staatlichen Vorläufer ihre Identitätsrelevanz und wurden aus dem Tableau der offiziell gepflegten Erinnerungsfiguren verbannt“. Neue, die kommunistische Ordnung des Staates legitimierende Gedächtnisinhalte wurden nun durch staatliche Vergangenheitspolitik aufgebaut. Allen voran der Partisanenkrieg, der verherrlicht wurde und der in den Geschichtslehrbüchern die meiste Aufmerksamkeit bekam und über den zahlreiche Filme produziert wurden.

 

„Trotz solcher ideologischer Umwertungen blieb die kognitive Grundstruktur des Erinnerns aber gleich: Wie schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert war es auch jetzt wieder der Krieg, diesmal der Partisanenkrieg, der als staatserzeugende Kraft heroisiert wurde“ und auch eine Sozialisationsfunktion ausübte. In diesem Sinne konnten auch die Partisanen auf bestehende Strukturen zurückgreifen. Der Sozialismus hat „die Kontinuität bellizistischer Werte nur ideologisch übertüncht, nicht aber überwunden“.

 

Die hohe Wertstellung, die dem Krieg und damit auch der Verherrlichung und Banalisierung der Gewalt auch im „zweiten Jugoslawien“ zukam, wirft die Frage auf, ob und welchen Einfluss diese staatlich gelenkte Erinnerung auf die Ereignisse beim Zerfall des „zweiten Jugoslawiens“ hatte, beziehungsweise ob sich manche, vielfach und detailliert in den Partisanenfilmen beschrieben Gewaltpraktiken, für die Erklärung der Brutalität in den Jugoslawienkriegen eignen. Jahrzehnte lang wurden durch die Schule Werte vermittelt, „in denen der militärischen Gewalt im Dienste der eigenen Gruppe eine hohe ethische Geltung zugeschrieben wurde“. Zumindest lässt sich nachweisen, dass die Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre entstehenden Erinnerungsbilder, die als Mobilisierungsressource für die nationalitäten- und machtpolitischen Auseinandersetzungen im zerfallenden Jugoslawien genutzt wurden, kriegs- und gewaltzentriert blieben. Der Krieg wurde auch jetzt als identitätsstiftende Erinnerungsfigur in das Zentrum gerückt. Die Kosovo-Schlacht, die Balkankriege und der Erste Weltkrieg, also alles Bilder, die eine nationale Identitätsstiftung begünstigen, wurden in den nationalistischen Diskursen dieser Zeit zu „Schnittstellen dieses Gedächtnisses“, zu tragenden Säulen der Erinnerungskultur gemacht. Zu fragen ist hier, warum diese Interpretation ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt bei der Öffentlichkeit auf eine Aufnahmebereitschaft stoßen konnte, denn offensichtlich waren jahrhunderte alte Mythen „kommunizierbar“ gewesen. Möglich scheint das besonders in Krisen- und Umbruchszeiten zu sein. Spezifische situative Kontexte sind notwendig, damit derartige kulturelle Dispositionen der Gewalt ihre Wirkung entfalten können. In unserem Fall ist die sichtbare Desintegration des gemeinsamen Staates und die damit einhergehende Identitätskrise der Bevölkerung und die Legitimationskrise des Staates gemeint. Vor allem bei der serbischen Bevölkerung bedeutete der Zerfall des Staates eine Erschütterung einer jugoslawischen und sozialistischen Staatsidentität, die „Raum schuf für neue Identitätskonstruktionen, welche [...] in erheblichem Maße gewaltbegünstigend wirkten“. Dazu kommt die lange vor dem Zusammenbruch seitens der Geschichtswissenschaft und der Belletristik betriebene Propaganda und Inszenierung eines Bedrohungszustandes des serbischen Volkes, angeblich in ganz Jugoslawien. Mit dem Tod Titos war eine wichtige, vielleicht die wichtigste Legitimationsstütze Jugoslawiens, weggebrochen. Seit dem war es nun auch zunehmend möglich, öffentlich die anderen Stützen des Staates in Frage zu stellen.

 

2.4 Der Kosovo – Mythos und der Zerfall Jugoslawiens

 

Die Symbole des Kosovo wurden auch in der Zeit der „Meetings der Wahrheit“ (Juli 1988- März 1989), also noch vor der 600-Jahr-Feier umfangreich eingesetzt und gebraucht. 1989 näherte sich der sechshundertste Jahrestag der serbischen Niederlage auf dem Amselfeld. Für Jugoslawien war es eine durch Krisen und Zerfallserscheinungen gezeichnete Zeit. Das Land befand sich in einer schon länger andauernden, tiefen Wirtschaftskrise sowie politischen Zerfallserscheinungen und einer Verfassungskrise. Mit Slobodan Milošević wurden schon die Weichen der großserbischen Eroberungspolitik gestellt - nun galt es aber die Menschenmassen dafür zu mobilisieren. Das Krisenumfeld war ein allzu guter Nährboden für die Wiederbelebung längst vergessen geglaubter Mythen und Legenden und die Entfaltung ihrer verheerenden Wirkung. Auch hier bot sich der Kosovo-Mythos als der einzig verbliebene, noch kommunizierbare Mythos an.

 

Mit den Vorbereitungen wurde für die 600-Jahr-Feier schon ein Jahr vorher umfangreich begonnen. Begleitet durch medienwirksame Kampagnen konnte die Botschaft übermittelt werden, dass die Gedenkfeiern an die Kosovoschlacht bisher immer in entscheidenden Schicksalsmomenten der serbischen Geschichte stattgefunden haben. Und ein solcher wäre gerade jetzt. Die Feier wurde auf dem Gazimestan in Anwesenheit mehrerer hunderttausend Menschen abgehalten und blieb nicht nur wegen der hohen Teilnehmerzahl in Erinnerung, sondern auch wegen der von Milošević gehaltenen Rede, die als Ankündigung erneuter Kämpfe und Schicksalsschlachten des serbischen Volkes gedeutet werden konnte und gedeutet werden musste. Es war keine nur auf historische Ereignisse bezogene Rede, das war aber die „Verpackung“. Vielmehr bezog sich Milošević auf die aktuellen politischen Gegebenheiten in Jugoslawien. Kernbestandteile des Kosovo-Mythos wurden auch von Milošević angesprochen. Uneinigkeit und Verrat seien wie eine böse Krankheit, die das serbische Volk vor 600 Jahren und auch „heute“ befallen haben. Bezugnehmend zur aktuellen Situation sagte Milošević, dass die Uneinigkeit der serbischen Politiker Serbien zurückgeworfen und erniedrigt habe, weswegen man sich heute, sechs Jahrhunderte später wieder vor und in Kämpfen befinde, die zwar nicht bewaffnet seien, aber auch solche nicht ausgeschlossen werden dürften. Unabhängig davon wie diese bevorstehenden Kämpfe seien, könne man sie ohne Entschlossenheit, Mut und Opferbereitschaft nicht gewinnen. Die Ausgabe der gleichgeschalteten Belgrader Tageszeitung Politika vom 28. Juni 1989 war auch im Zeichen der 600-Jahr-Feier und des Kosovomythos. So wurde der Leitartikel mit folgendem Titel überschrieben: „Sechs Jahrhunderte nach Kosovo – wieder Kosovo-Zeit“. Der Untertitel lautete: „Das serbische Volk feierte und feiert seine Helden und erkennt seine Verräter“. Im weiteren Text wird festgestellt, dass die Debatten um Vuk Branković immer noch andauern, aber unbeachtet der historischen Tatsachen, wurde das serbische Volk Jahrhunderte lang bis heute immer von gewissen Brankovići begleitet. „Daher ist jetzt wieder Kosovo-Zeit, denn auf dem Kosovo und um das Kosovo wird das Schicksal Jugoslawiens und des Sozialismus entschieden. Serbisches und jugoslawisches Kosovo wollen sie uns nehmen, sie wollen, aber sie werden es nicht können“. Auch an die Worte von Fürst Lazar wird erinnert: „Es ist besser, ehrenhaft zu sterben als unehrenhaft zu leben“. Auch hier ist es natürlich nicht richtig, die Ursachen für den „Jugoslawien-Krieg“ in der Belebung und Missbrauch des Kosovo-Mythos zu suchen. Die Gründe sind vielfältiger und tiefgründiger, aber der Appell an den Kosovo-Mythos trug sicher zur Gewaltbereitschaft bei, da darin Gewalt als etwas Legitimes, Ehrenhaftes und als ethisch akzeptables Mittel gesehen wird, wie weiter oben schon erwähnt. Auch die gewaltverherrlichende Darstellung des Partisanenkrieges in den Schulbüchern im Vorkriegs-Jugoslawien hat zur Verbreitung solchen Ethos, falschen Ethos beigetragen.

 

Genau zwei Jahre danach begann der Vormarsch der Jugoslawischen Volksarmee in Slowenien. Kurz danach begann auch die Aggression auf Kroatien und danach auf Bosnien und die Herzegowina. Und die Gegner sind wieder wie vor 600 Jahren die Türken, d. h. die Muslime in Bosnien Herzegowina. Zirojević erinnert ironisch daran, dass „wir [Serben] einen neuen mythischen Helden bekommen haben – Slobodan Milošević“. Vuk Branković fehlt in diesem Drama auch nicht. Je nach Bedürfnissen der Tagespolitik wandert er von Person zu Person und lässt dabei auch ausländische Politiker nicht außer Acht. Der Kosovo-Mythos hat begonnen, seine Funktion als ein Vehikel zum „nationalen Erwachen“ des serbischen Volkes zu erfüllen. Mit dem wiederbelebten Thema Kosovo konnten grosse Mengen mobilisiert werden. Das beweisen die während des Sommers 1988 in ganz Serbien abgehaltenen „Solidaritätsmeetings“. Von diesen Demonstrationen ging eine Warnung an die Albaner des Kosovo und an die restlichen jugoslawischen Republiken, dass sich die Spielregeln geändert hätten und dass Serbien keine Geständnisse mehr innerhalb der Föderation machen könne sowie dass die Zeit gekommen ist, das serbische Recht auf Staatlichkeit und Gleichberechtigung der Serben im ganzen Land wiederherzustellen. Damit griff Milošević die Verfassung aus dem Jahre 1974 an. Die „Solidaritätsmeetings“ wären ohne eine vorhergehende ideelle Formung durch die serbische Intelligenz nicht möglich gewesen. Die 600-Jahr-Feier war dann der Höhepunkt der „Meetingbewegung“, von welcher der Krieg angekündigt wurde. Immer wieder muss man sich vergegenwärtigen, dass hinter diesen Feiern und einer derartigen Mobilisierung ein großes politisches Projekt stand, nämlich die Verwirklichung des Planes, dass überall dort wo Serben leben, der serbische Staat sein soll. Und auch dort wo serbische Gräber sind. Dieses Projekt sollte mit einem höheren, jenseitigen metaphysischen Sinn versehen werden. Matija Bećković, ein Angehöriger der serbischen Intelligenz und Monarchist sagte 1988 vor einer serbischen Gemeinde in Nordamerika diesbezüglich:

 

  • „Das Grab ist unser höchstes Heiligtum, die älteste Kirche des serbischen Volkes. Das Grab ist unser am längsten währender und am tiefsten verwurzelter Glaube. Immer noch schwören wir bei den Knochen und Gräbern, wir haben noch keinen festeren Halt, kein besseres Heilmittel, keine festere Überzeugung.(...) Wegen Knochen führten Staaten Kriege, auf Knochen gründen Staaten, mit Knochen sind sie befestigt und umzäunt“.
  • Dubravka Stojanović führt in ihrem Text Zitate von späteren Oppositionspolitikern aus den 90er Jahren und heutigen amtierenden Politikern an. Interessanterweise haben sich viele davon zum Thema Kosovo noch radikaler positioniert als zum Beispiel Milošević selbst. Er gebrauchte Mythen „nur“, um seine politischen Ziele zu erreichen, davon überzeugt war er aber niemals. Sie aber haben das Kosovo-Problem deutlich stärker in Anlehnung an die epische Tradition dargestellt als an eine realistische Einschätzung der Verhältnisse und ausgehend von den de facto Bedingungen. Das Problem des Kosovo und der serbisch-albanische Konflikt konnte somit schnell auf das ganze jugoslawische Territorium und auf die Beziehungen zwischen Serben und allen anderen Völkern Jugoslawiens projiziert, gedeutet und übertragen werden.

    Der nächste Schritt zur Zuspitzung der Situation war durch die konkrete Mobilisierung der Bevölkerung getan. Wie sich dies in die Praxis umsetzen ließ, belegt der Vorgang in der Krajina. Die Serbische Demokratische Partei in Kroatien (Srpska Demokratska Stranka-SDS), in Wirklichkeit aber eine durch und durch radikale Partei, hielt im Frühling und Sommer 1990 in regelmäßigen Abständen Massenveranstaltungen, die sogenannte „Mitings“ (vom englischen „meeting“), auf denen Reden, versehen mit nationalem Pathos und Mythen gehalten wurden und auch auf fruchtbaren Boden fielen. Bewusstes Angstschüren durch Bedrohungsparolen gehörte zu Elementen der ethno-politischen Mobilisierung. Zunehmend propagierten serbische Akteure der Krajina eine gewaltsame Lösung der bestehenden Probleme, bis hin zum Einsatz „strategischer“ Gewalt, um die Unterstützung der mächtigen Jugoslawischen Volksarmee für sich zu gewinnen und ihr Vorgehen zu rechtfertigen. Auch hier wurden Mythen, „historische Konflikte“ zwischen Serben und Kroaten und Gewaltdiskurse ausgenutzt, um die Bevölkerung zu mobilisieren. In Wahrheit aber sahen sich die lokalen „Eliten“ durch den Zerfall Jugoslawiens und das Scheitern des Sozialismus bedroht. Für sie war die nationalistische Mobilisierung die einzige Chance, ihre Macht und Privilegien zu wahren: „ehemalige lokale Parteifunktionäre der jetzt bedeutungslos gewordenen Kommunistischen Partei, Polizeichefs der Gemeinden, lokale „Intellektuelle“, deren Status durch den Wandel von der sozialistischen und jugoslawischen zu einer national-kroatischen Ordnung gefährdet war“. Ähnlich war es auch in Bosnien-Herzegowina.

     

    2.5 „Missbrauch der Autorität der Wissenschaft“

     

    • „Die Kosovofrage ist die Lebensfrage des serbischen Volkes und die Schicksals- und Existenzfrage Jugoslawiens, denn Jugoslawien steht und fällt mit dem Kosovo. Die Verfassung von 1974 ermöglicht objektiv die Schaffung eines zweiten albanischen Staates auf jugoslawischem Boden und somit die Bildung GroßAlbaniens. In dem Fall führt dies zu einer Neuordnung des ganzen Balkans, dessen Folgen ganz gewiss tragisch sein werden, sowohl für die Völker Jugoslawiens als auch für die Völker des ganzen Balkans.“
  • Dobrica Ćosić prophezeit hier sehr deutlich einen tragischen Ausgang der Neuordnung des Balkans, ja inklusive eine blutige Auseinandersetzung um die Grenzen der neuen Staaten, um die Grenze eines Großserbiens. Im weiteren Verlauf des Textes fragt Ćosić, wie man mit friedlichen und ziviliserten Mitteln die Kosovofrage lösen wolle, wenn die albanische Seite nur mit Gewalt, „antidemokratisch“ und „unzivilisiert“ agiere. Damit befürwortet er indirekt eine gewaltsame Lösung des gordischen Knotens Kosovo. Und ganz wichtig ist hier, dass Ćosić die Verfassung von 1974 angreift, also eigentlich die Fundamente des gemeinsamen Staates, womit er indirekt die Weiterexistenz eines gemeinsamen Staates in dieser Form für unmöglich hält und an der Zerstörung Jugoslawiens arbeitet. Diese Verfassung ermöglicht laut Ćosić eine „totale Albanisierung des serbischen und jugoslawischen nationalen und staatlichen Raumes“.

    Diese und ähnliche Aussagen Ćosićs und seiner Kollegen sind der Öffentlichkeit schon seit dem sog. „Memorandum“ der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste (SANU) aus dem Jahre 1986 bekannt. Spätestens ab 1986 gab es einen Missbrauch der Akademie und deren Instrumentalisierung zu politischen Zwecken. Dabei spielte der bereits erwähnte, einflussreiche serbische Literat und zeitweiliger jugoslawischer Staatspräsident, Dobrica Ćosić eine federführende Rolle und war in den späten 1980er Jahren „eine der Schlüsselfiguren des serbischen nationalistischen Diskurses“. Er übte zu dem Zeitpunkt zwar keine Funktion in der SANU aus, hatte aber einen enormen Einfluss auf deren herausragende Mitglieder. Im Memorandum wie in anderen Schriften der SANU wurde die jugoslawische Verfassung von 1974 als der Grund aller Missstände und als Grund für die Krise der jugoslawischen und vor allem der serbischen Gesellschaft ausgemacht. Der 1974-er Verfassung haben sich die Mitglieder der Akademie allerdings auch dann bedient, wenn sie daraus Argumente gegen die kroatische bzw. slowenischen Position bei der Lösung der staatlichen Krise gewinnen konnten. Diese Tatsache zeigt exemplarisch die Kontradiktion des ganzen Dokumentes. Dass die Akademie bzw. ihre namhaften Mitglieder die aggressive serbische Politik unterstützt haben, beweist die Tatsache, dass sie zum Beispiel bei Parteiveranstaltungen der Sozialistischen Partei Serbiens Slobodan Miloševićs und der Serbischen Demokratischen Partei Bosnien Hercegovinas von Radovan Karadžić und zusammen mit dem letzteren, anwesend waren und Reden gehalten haben.

     

    Die Tätigkeiten der Akademie und ihrer Mitglieder wären ohne die tatkräftige und öffentlichkeitswirksame Unterstützung der bereits erwähnten Belgrader Tageszeitung Politika nur halb soviel wert gewesen. Diese berichtete täglich über die Akademie und die (politischen) Tätigkeiten ihrer Mitglieder und über die enge und „erfolgreiche Zusammenarbeit“ der Akademie mit der politischen Führung Serbiens. Manche Mitglieder der Akademie, vorrangig aus der Abteilung der Geistes- und Sozialwissenschaften ließen keine Gelegenheit aus, die Politik der serbischen Führung öffentlich zu begrüßen. Andererseits präsentierte die SANU durch schriftliche Stellungnahmen der einheimischen wie der Weltöffentlichkeit mehrmals die „katastrophale“ Lage des benachteiligten serbischen Volkes im sozialistischen Jugoslawien und Anfang der 90er in Kroatien und beschwor abermals das sorgfältig gepflegte Opfermythos des serbischen Volkes.

     

    Obwohl auch andere Stimmen aus den Reihen der SANU zu vernehmen waren, wie der Antikriegsappell von achtzehn Mitgliedern der Akademie im November 1991, hat sich die Institution Akademie bald davon feierlich distanziert. Die öffentlichen Stellungnahmen der Akademie analysierend, kommt Olivera Milosavljević zu dem eindeutigen Schluss, dass die öffentlichen Stellungnahmen der Akademie immer politische Unterstützung für die serbische Führung bedeutet haben. Kein einziges Dokument nämlich, das die Akademie zwischen 1988 und 1992 verlassen hat, zog je die offizielle serbische Politik weder global noch in einzelnen Fragen in Zweifel. Damit trägt die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste und große Teile der serbischen Intelligenz eine schwere Verantwortung für die tragischen Ereignisse der 1990er Jahre im ehemaligen Jugoslawien.

     

    Doch nicht nur die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste war eine ideologieformende Institution, sondern auch der Schriftstellerverband Serbiens (UKS). Die Entwicklung im UKS fing Anfang der neunziger Jahre mit einer Forderung nach mehr Demokratie und endete mit dem gleichen Jahrzehnt in einem Ausbruch nationalistischer Ideologie. Der Widerstand Anfang des Jahrzehnts gegen die alten Machthaber endete mit dem Jahrzehnt in der Unterstützung der neuen serbischen Führung bei der Schaffung einer neuen [nationalistischen, O. B.] Ideologie. Wie die im Januar 1986 in einer Literaturzeitschrift erschienene Petition von 2000 Serben oder das im September desselben Jahres in der Večernje Novosti erschienene Memorandum der SANU sich mit der Lage der Kosovo-Serben beschäftigt, so thematisierten auch die von der UKS organisierten Leseabende „O Kosovu - Za Kosovo“ [Über Kosovo – Für Kosovo] die „dramatische“ Situation der Kosovo-Serben und brachten ihre Solidarität damit zum Ausdruck. Auch diese Protestveranstaltungen haben aus der Frage der Kosovo-Serben eine serbische Frage im ganzen Jugoslawien gemacht. Das serbisches Volk wurde dabei zu einem universalen Opfer ganz Jugoslawiens stilisiert. Das zeigt auch Ćosićs Interpretation Jugoslawiens und des Kosovo, wonach es kein komplexes Problem des politischen Systems gebe, sondern ein Problem entlang der Abgrenzung Unterdrücker-Unterdrückte. Ćosić sieht nur die serbischen Leiden und die albanische Gewalt. Die über Jahre hinweg durch Serbien betriebene Politik der Unterdrückung der Kosovo-Albaner wird aber von ihm nicht wahrgenommen. Dass die serbische intellektuelle Elite in den von ihnen selbst gesponnenen Mythen sich verfangen und darin bis zum Absurdität gesteigert hat, beweist u.a. dieses Zitat von dem bereits erwähnten Schriftsteller und Intellektuellen Matija Bećković, der das „Leiden“ des serbischen Volkes durch die Geschichte hindurch mit dem Leiden des jüdischen Volkes gleichsetzend abermals den serbischen Opfermythos beschwört:

    • „Die ersten Albaner, die in Gruben geworfen wurden, waren Freiwillige, die glücklich und gesund aus ihnen wieder heraus kamen. In Ljubljana[gemeint ist die Solidaritätskundgebung der „Slowenischen Sozialistischen Jugend“ und des „Slowenischen Schriftstellerverbandes“, die anlässlich des Streiks der albanischen Bergleute in Trepča abgehalten wurde, O. B.] wurden sie für Juden erklärt, welche von den Serben in die Gruben geworfen wurden. Da hat man aber vergessen, dass Gruben die einzigen ethnisch reinen serbischen Siedlungen sind und das irgendwo unter der Erde die Verwandtschaft der Juden und Serben für immer besiegelt wurde“.
  • Nicht nur die weltliche sondern auch die geistliche Intelligenz hat eine verantwortungslose Rolle bei der nationalistischen Mobilisierung und Homogenisierung des serbischen Volkes gespielt.

     

    3. Die Serbische Orthodoxe Kirche und der Kosovo-Mythos

     

    Schon im April 1982 verfassten 21 orthodoxe Priester, unter denen auch drei namhafte serbische Theologen, einen an die kommunistische Führung Jugoslawiens gerichteten Appell, der das „Erheben der Stimme zum Schutz des geistigen und biologischen Wesens des serbischen Volkes in Kosovo und Metohija“ darstellte und stießen damit die öffentliche Debatte über die Abwanderung der Serben aus dem Kosovo an. Dieser Appell war stark mythologisch durchsetzt und beschwor den Kampfgeist der Kosovoschlacht für die Gegenwart herauf:

    • „Das serbische Volk schlägt bis heute seine Kosovoschlacht, kämpft darum und um eine solche Erinnerung seiner Identität, für eine sinn Erfüllte Existenz in dieser Region, seit 1389 bis heute. (...) Tatsächlich dauert die Kosovo-Schlacht von 1389 bis heute an; das bedeutet, dass sich das serbische Volk noch nicht ergeben hat, und darum ist Kosovo bis zum heutigen Tag unser“.
  • Hiermit waren relativ früh alle Tabus der titoistischen Nationalitätenpolitik gebrochen. Petitionen und Appelle waren, wie Radić feststellt, seit 1982 ein neues, immer regelmäßiger in Erscheinung tretendes Phänomen innerhalb der Serbischen Orthodoxen Kirche (SPC). Und damit war die SPC nach 40 Jahre gesellschaftlicher Abstinenz wieder auf die öffentliche und politische Bühne zurückgekehrt. Lieder über das Kosovo füllten kirchliche Zeitungen. Auch in kirchlichen Kreisen und unter angesehenen Theologen wurde oft das „Leiden“ der Serben im Kosovo und deren „Genozid“ gerne auf ganz Jugoslawien ausgedehnt. Ab 1984 wurde den Serben während des 2. Weltkrieges in Kroatien und ihrem Schicksal immer mehr Platz in den kirchlichen Zeitungen gewidmet und in der zweiten Hälfte der 80er Jahre kommen immer mehr Themen über die angebliche Bedrohung für das serbische Volk in Kroatien und Bosnien-Herzegowina.

     

    Auch die von der Kirche organisierte und inszenierte sowie durch eine mediengerechte Begleitung und Visualisierung unterstützte Übertragung der Gebeine Knez Lazars aus Ravanica in den Kosovo, um dort bei der 600-Jahr-Feier der Schlacht anwesend zu sein, ist mit der Absicht verbunden gewesen, die Serben für Kosovo zu sensibilisieren und sie auf diese Art und Weise für die extremen Positionen vieler Kirchenvertreter zu gewinnen. Auch die immer öfter stattfindenden Exhumierungen der im 2. Weltkrieg getöteten Serben in Bosnien und der Herzegowina und Kroatien dienten dem selben Zweck. Die Art und Weise der Inszenierung war von besonderer Relevanz. Es wurde immer in begleitenden Berichten ganz detailliert beschrieben, wie die Serben umgebracht wurden.

     

    Slobodan Milošević aber geriet zunehmend in die Kritik der SPC, da diese endlich erkannte, dass Miloševićs scheinbarer Einsatz für die Kosovo-Serben nur der Popularisierung seiner eigenen Person und der Instrumentalisierung der Menschen für seine Politik diente und er nicht die „Politik“ der SPC bezüglich des Kosovoproblems durchführte. Er hatte die versprochene Restitution nicht durchgeführt und der Kirche nicht die gesellschaftspolitische Rolle zugestanden, die sie für sich beansprucht hatte. Auch fanden die Kirchenvertreter später, dass die serbische Führung gegenüber der Internationalen Gemeinschaft zu nachgiebig sei, wenn es um die Stellung der Serben in BiH ging. Hier wurde also die serbische Regierung von der Kirche in ihren extremistischen und großserbischen Vorstellungen weit überholt.

    Zu ständigen Thesen, die sich durchgängig in der serbisch-orthodoxen Presse finden lassen, gehören beispielsweise solche, dass die Serben bestraft sind wegen ihrer Uneinigkeit und weil sie der Orthodoxie den Rücken kehren, weil sie ihren Glauben, ihre Kultur und ihre Schrift vergessen haben. Serben seien unschuldig, aber ganz Europa unter Einfluss des Vatikans ist gegen sie, weil sie orthodox sind. Hier findet durch die kirchliche Propaganda eine Konfessionalisierung eines bisher ethnisch definierten Konfliktpotentials. Die Serben würden das Drama Christi wiederholen. Ansichten herrschten vor, die Idee eines gemeinsamen jugoslawischen Staates habe das geistige und nationale Wesen der Serben zerstört. Die Serben würden gerettet, wenn sie zur Kirche zurückkehrten. Dass die Kirche auf der Seite der Protagonisten eines großserbischen Staates stand und dem Prinzip, dass alle Serben in einem Staat leben sollten, beweist auch die Konstante in allen Stellungnahmen der SPC, dass das Recht auf Selbstbestimmung bei den ethnischen Gruppen liege und dass die „künstlichen AVNOJ-Grenzen der Republiken illegitim sind“.

     

    Nicht nur der Wunsch, alle Serben in einem Staat zu vereinigen, sondern auch der Kosovo-Mythos hat sich in der SPC über die Jahrhunderte gehalten. Ihr ist es eigentlich auch zu verdanken, dass der Kosovo-Mythos erst überhaupt entstehen konnte. Der Kosovo-Mythos zieht sich nach Meinung vieler Kirchenvertreter durch die ganze serbische Geschichte. Das wird in den Jahren der serbischen Mobilisierung und Homogenisierung der Bevölkerungsgruppen zu einem Korpus immer wieder betont und herausgestellt. Angefangen bei der Kosovo-Schlacht über die Jahrhunderte währende (türkische) Fremdherrschaft, über den „Genozid“ am serbischen Volk im 2. Weltkrieg und die Zerstörung des serbischen „nationalen und geistigen Wesens“ während des „zweiten Jugoslawien“ und des albanischen „Terrors“ im Kosovo bis hin in unsere Tage und dem erneuten „Genozid“ an den Serben in Kroatien und in BiH. Kosovo und das serbische Leiden sind zu einem Paradigma serbischer Geschichtsinterpretation geworden.

     

    Durch die Pflege des Kosovo-Mythos in der SPC wurden auch Fremdenmythen und Fremd- und Feindbilder gepflegt, die in der Zeit der Mobilisierung der Serben eingesetzt wurden. Mythen überhaupt und vor allem Fremdenmythen kann man, wie Katrin Boeckh feststellt deswegen in Serbien antreffen, weil die Mythen hier auf einen „Nährboden mit orthodoxer Bevölkerung treffen“. Dabei ist nicht nur die konfessionelle Ausrichtung der Bevölkerung gemeint sondern die daraus resultierende spezifische Geisteshaltung, welche bedingt, dass „das Fremde von vorneherein als etwas Bedrohliches und Feindliches empfunden wird“.

     

    Allerdings ist eine „Kursänderung“ in der SPC seit spätestens 1996 und verstärkt nach dem Kosovokrieg 1999 zu beobachten gewesen. Da wurde sich auch die Kirche endgültig der selbst für die Serben verheerenden Politik Miloševićs bewusst, deren Resultate in den Flüchtlingsströmen der kroatischen Serben sichtbar wurden. Es war also eher eine Enttäuschung über die Politik Miloševićs als eine Abkehr von den großserbischen Vorstellungen, die sich in der SPC breit machte.

     

    Zusammenfassung

     

    Mit dieser Arbeit sollte die Geschichte des Kosovo-Mythos näher beleuchtet werden vor allem unter dem Aspekt seines Mobilisierungspotentials sowie der Wirkung, wenn er zu politischen Zwecken missbraucht wurde. Zunächst ein harmloser sakraler Mythos, entwickelte sich der Kosovo-Mythos im Zuge seiner Säkularisierung, Nationalisierung, Popularisierung und Ethnisierung zu einem nicht wegzudenkenden Mythos und Fixpunkt der serbischen neueren Geschichte.

     

    Immer wieder, wie die Arbeit gezeigt hat, wurde der Kosovo-Mythos in Umbruchphasen und Krisenzeiten von den serbischen weltlichen und geistlichen Elite aufgegriffen, und zur Mobilisierung der Massen genutzt. Lange Zeit blieb der Kosovo-Mythos und der im selben Zusammenhang und aus dem Kosovo-Mythos entstammende und zu betrachtende Opfermythos kommunizierbar, auch am Ende des 20. Jahrhunderts.

    Aktuell scheint der Kosovo-Mythos aus den öffentlichen Diskursen in Serbien verschwunden zu sein, ob nur vorübergehend oder für immer, wird die kommende Zeit zeigen. Die Zeit, als Massen durch Rückgriff auf bestimmte Mythen und in diesem Fall auf den Kosovo-Mythos mobilisiert werden konnten, scheinen zunächst vorbei zu sein. Die serbische Öffentlichkeit hat sich offensichtlich mit dem status quo des Kosovo-Polje abgefunden und zeigt dafür nur ein allzu geringes Interesse.

     

    Die Geschichte aber zeigt, dass der Kosovo-Mythos phasenweise, zum Teil in der Zwischenkriegszeit und dann zwischen 1945-1980 in den Hintergrund trat und durch andere, der aktuellen politischen oder auch militärischen Lage oder der ethnischen Zusammensetzung des jeweiligen Staates auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens angepasste Mythen ersetzt wurde. Im „Untergrund“ blieb der Kosovo-Mythos aber bekannt, was seine „Erweckung“ und Missbrauch zu politischen Zwecken leicht machte.

     

    Zur Zeit denke ich ist in Serbien, wenn überhaupt, nur ein „Unschuldsmythos“ verbreitet, weil die Gesellschaft (abgesehen von der Auslieferung Slobodan Miloševićs an das Haager Kriegsverbrechertribunal, was aber noch lange keine Auseinandersetzung der Gesellschaft mit dem Thema bedeutet) keine Bereitschaft zu zeigen scheint, die jüngste Vergangenheit selbstkritisch aufzuarbeiten und lieber ihre Unschuld an den Geschehnissen der 1990er Jahre in Jugoslawien vehement beteuert und sich in den genannten Unschuldsmythos zurückzieht.

    Das zeigt aber auch, dass Mythen unbeständig sind und je nach der Situation innerhalb einer Gesellschaft ausgetauscht und durch andere ersetzt werden können. Auf jeden Fall können sie zerstörerische Wirkung entfalten. Vorausgesetzt, sie haben einen Bezug zur Aktualität, und es sind Akteure da, die ihn popularisieren, sowie eine aufnahmebereite, im ideal Fall durch Identitäts- und andere Krisen geschüttelte Gesellschaft. Der Mythos verliert auch schnell seine Bedeutung, haben schon die durch ihn ausgelösten Wirkungen eine Eigendynamik gewonnen. Er ist nicht mehr wesentlich. Dass Bildung scheinbar auch nicht vor dem „Mythenvirus“ schützt, konnten wir an hand der serbischen Elite sehen. Im Gegenteil, das sind die Kreise, die einen Mythos erst politik- und kommunikationsfähig machen. Diese Bevölkerungsschichten tragen auch eine besondere Verantwortung für dadurch hervorgerufenen Tragödien. Im ganzen Geschehen um den Kosovo-Mythos und seine Wirkung und Popularisierung ist nur die tragische Rolle der Serbisch-Orthodoxen-Kirche festzustellen, die aber aufgrund ihrer Struktur als eine Nationalkirche wahrscheinlich „nicht anders kann“.

     

     

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