46.DOK-Festival Leipzig

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46. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

14. bis 19. Oktober 2003

 

Die feierliche Eröffnung durch:

 

Fred Gehler, Direktor des Festivals

Peter Sodann, Intendant des neuen theaters halle

 

Eröffnungsfilme:

 

A Cat and a Half

von Andrej Chržanovskij

(AnimaWettbewerb1, Rußland, 2002, 28 min.)

 

Der Schlüssel zur Bestimmung von Zwergen

oder Die letzte Reise des Lemuel Gulliver

von Martin Šulík

(Dok Wettbewerb, Tschechien, 2002, 57 min.)

 

„Wärst du nicht reich, wär ich nicht arm.“

 

Im Gegensatz zur leisen Begrüßung des Vorjahres greift Festivaldirektor Fred Gehler dieses Jahr härter in die Tasten. Seine Worte sind kämpferisch und geißeln die Entwertung der Kultur in der Gegenwart. Es sei eine „entartete Kulturgesellschaft“: Schein, Entwertung, Entgeistigung. Er spricht von Herbststimmung, von der Verschiebung dessen, was man heute als Kultur bezeichnen muß, Fußball zum Beispiel - „Gott ist rund“ (Dirk Schümer). Seine Ausführung zur „Lingua des Vierten Reiches“, gespeist durch nur noch Worthülsen, erschienen etwas dramatisch. Auf keinen Fall aber zu dramatisch – schließlich ist es so weit, daß man sich nicht mehr über Begriffsleere und Sekundenkürze noch der wichtigsten Fragen aufzuregen im Stande ist. Er schließt mit dem Zitat „Wer hätte gedacht, daß das Fernsehprogramm heute so ist, wie wir immer behauptet haben.“ (Dieter Hildebrandt)

 

Ans Redepult folgt Peter Sodann, der Intendant des neuen theaters halle und Leipziger Fernsehkomissar. Ob er nach Andres Veiel (Black Box BRD), der im Vorjahr den Eröffnungsvortrag hielt, der richtige Mann an dieser Stelle war? Nach seinen ersten Worten („Ich wollte eigentlich mit einem Witz beginnen und auch schnell wieder aufhören.“) konnte man daran zweifeln. Seine Ausführungen bekamen aber mehr und mehr Sinn, auch wenn sie einfach daher kamen und abgelesen wirkten. Der gesellschaftliche Reform-Umbruch wurde beispielsweise mit dem Wort „sozialverträgliche Massenenteignung“ bedacht und die Unmöglichkeit einer stabilen Ökonomie ohne permanentes Wirtschaftswachstum in frage gestellt: „Wachstum ist endlich.“ Der ehemalige Angehörige der „betenden Kommunisten“ forderte die Grundgesetzformel „Eigentum verpflichtet“ zu erweitern und hinzuzufügen, wozu es verpflichte.

Der Kultur schrieb Sodann die Aufgabe zu, durch Aufklärung vor Barbarei zu retten. Er schloß mit Brecht: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

 

A Cat and a Half

 

Die Collage aus Photos, Zeichnungen, Animationen, Tagebuchaufzeichnungen, reflektierten Kunstwerken von und zu Joseph Brodsky (1940 – 1996) zeigen den Literaturnobelpreisträger von 1987 in der Doppelgestellt von Mensch und Katze: in seinem vorhergegangenen Leben sei er eine Katze gewesen und im nächsten strebe er auch wieder an, eine zu sein. Die Animation zeigt ihn als struppigen Kater, der anders empfindet als sein Umfeld, der eine andere Perspektive hat und übt und der eine häusliche Behaglichkeit genießt, so lange er kann. „Soziales Parasitentum“ hieß man das Vergehen, das ihn früh, 1964 – 1965 ins Strafarbeitsexil verurteilte. Die heiteren und bitteren Töne mischen sich in den Bildern und Animationen von Leningrad und des privaten Umfeldes. 1972 erfolgt etwas Ähnliches wie eine Ausbürgerung: Exil ohne Wiederkehr. Um die dreißig Jahre alt und gebrochen, zermartert und von utopischen Träumen auch geplagt.

 

Der Schlüssel zur Bestimmung von Zwergen

oder Die letzte Reise des Lemuel Gulliver

 

Der tschech(oslowak)ische Regisseur und Drehbuchautor Pavel Juracek (1935 – 1989) ist der tragische Held eines Arbeits- und Familientagebuchs. Private sowie offizielle Filmdokumente und Dokumentarspiel wechseln sich ab, Tagebucheinträge in verschiedenen zeitlichen Abständen spannen den Bogen von der ersten Hälfte der 60er Jahre über den Prager Frühling 1968/69 bis in die von Sowjetuniformen beherrschten 70er. Der Autor der „Neuen Welle“ wird von der Schönheit und „Perfektheit“ seiner kleinen Tochter überrascht. Mit dem privaten Glück wächst die persönliche Freiheit in dem selbstbewußten Land am Rande des Ostblocks, Filmdokumente zeigen überproportionierte Leuchtreklame. Die Innere Welt des Tagebuchschreibers steht in allen Phasen der Entwicklung im Gegensatz zu seiner Familie und der äußeren Welt. Privates Glück muß nicht persönliches Glück sein, ist zu erkennen und eine chronische Depression brennt unterschwellig. Die Arbeit am Drehbuch für „Fall für einen beginnenden Henker“ zieht sich und der Einmarsch der Russen rückt für den Betrachter immer näher und auch die private Situation wird immer bedrohlicher. Die Ehe scheitert. Mutter und Tochter ziehen, „der Liebe wegen“ nach München. Die Russen irren durch das Land – „Sie wissen nicht, was sie mit uns machen sollen.“ Aus dem Drehbuch wird tatsächlich ein Film, der auch erstaunlicherweise gezeigt wird und bis zu seiner Absetzung nach zwei Wochen Begeisterung auslöst: das Gulliver-Projekt schlüpft erst unter der Zensur durch.

 

Es folgte der Alltag der Erniedrigung. (Milan Kundera)

 

Mit einer alten Freundin hat der Protagonist einen Sohn. Für ihn kann er sich nicht sehr begeistern – die Abwesenheit seiner Tochter zerreist ihn. Die 70er Jahre bieten einen Alltag von Diktatur, Arbeitsverbot und Suizidtendenzen.

Neben dem Portrait der tschechoslowakischen „Neuen Welle“ und einer eindringlichen Alltagseinsicht konfrontiert mit dem Prager Frühling ist die Pointe, daß im Dokumentarspiel der zuerst ohne Begeisterung empfangene Sohn den Vater verkörpert und den Film realisiert hat. Ein beeindruckender Filmemacher, von dem wir noch hören werden.

 

 (Max Bornefeld-Ettmann)

 

Im Rahmen des 46. „DOK-Festivals“ werden in diesem Jahr 362 Beiträge gezeigt. Davon sind 185 Dokumentar- und 177 Animationsfilme. Im Wettbewerb Dokumentarfilm konkurrieren 16 Beiträge, im Wettbewerb Animationsfilm 46 Beiträge.

 

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