Peter Urban über...

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Übersetzer stellen vor:

Daniil Iwanowitsch Charms (1905 – 1942)

Der Übersetzer Peter Urban spricht anläßlich des 60. Todestages über seine Annäherung an das Werk von Charms und liest aus seinen Übertragungen.

13.01.03, Haus des Buches, Leipzig

Daniil Charms Tage in Leipzig

Unter der Überschrift „PÁDY“ findet Peter Urban in „plamen 11/67“ erstmals den Namen Daniil Charms. Es ist November 1967, und die tschechische Literaturzeitung widmet dem großen Bruder anläßlich des Jubiläums der Oktober-Revolution ihre aktuelle Ausgabe. Und „PÁDY“ sind die „Fälle“. Charms' Fälle, Charms' Zwischenfälle – schon einmal gehört? Der seltsame Autor ist auch heute nicht sehr verbreitet, obwohl man an diesem Abend im Haus des Buches einen anderen Eindruck haben kann. Es sind viele gekommen, mehr als die Veranstalter gedacht haben und mehr als Peter Urban erwartet hat. Dennoch setzt er sich auf das Podium und fängt ohne lange Vorrede in einem Plauderton an, von seiner Begegnung mit dem Werk zu berichten. Es ist eine Art Kamingespräch. Der Kenner berichtet und erzählt und wir lauschen gebannt, denn dieser „Professor“ schöpft aus den Vollen, aus seinen langen Studien und dem großen Wissen. Peter Urban ist das Werk von Charms präsent. Er hat es vor Augen.

Am 17.12.1905 (i. e. 30.12.1905) wird Daniil Iwanowitsch Juwatschew in St. Petersburg geboren. Bis er in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre seinen unverwechselbar ironischen Ton gefunden hat, wird er geprüft durch die Oktober-Revolution, die Kalenderreform, die ihm ‚dreizehn Tage seines Lebens nimmt', die Rechtschreibreform, die Entwertung der Hauptstadt St. Petersburg zugunsten Moskaus, Gefängnishaft und Verbannung nach Kursk. Nach der Revolution findet er zur Lyrik und nach Haft und Verbannung Anfang der Dreißiger nicht wieder zurück. Aus der Zeit stammen die Fragmente und die Fälle. Peter Urban sagt, es gebe keinen modernen russischen Schriftsteller, der nicht von ihnen irgendwie beeinflußt sei. Ihm ist an der anderen Richtung gelegen und darum zitiert er Gogol und Tschechow, um aufzuzeigen, daß und wie Charms sie und andere zitiert und variiert. Bedeutsam weißt er auf Übereinstimmungen im „Ton“ hin. Um den Enthusiasmus von Peter Urban nachvollziehen zu können, muß man aber selber tätig werden und selber diese Schriftsteller vergleichend lesen.

Der Ton, den wir hören, ist nämlich der von Peter Urban. „Liest aus seinen Übertragungen“ oder „Liest aus seinem Buch“ bedeutet, daß wir es nicht mit einem Schauspieler zu tun haben, der professionell vorliest. Peter Urban wählt eine „minimalistische“ (Jens-Paul Wollenberg), zurückhaltende Interpretationsweise. Das bekommt den Texten nicht schlecht. Zwar sprühen sie so nicht vor Witzigkeit und Absurdität. Doch tritt so im Laufe der Lesung etwas zutage, was neben der Erheiterung gerne übersehen und überlesen wird. Am Beispiel von „Die neugierigen alten Frauen“ wird es deutlich. Nacheinander lehnen sich ein paar alte Frauen aus „übergroßer Neugierde“ zu weit aus dem Fenster, wodurch sie nacheinander aus dem Fenster fallen und zerschellen. – Die Freude im Publikum ist groß. Der Hinweis von Peter Urban auf die Entstehungszeit 1936 und die zu dieser Zeit stattfindenden „Säuberungen“, das plötzliche Verschwinden, läßt das Lachen im Hals steckenbleiben. Durch die Absurdität wird die in den dreißiger Jahren in der Sowjetunion herrschende Gewalt hinterrücks in das Lachen eingefädelt, um dann wie ein Strick die Luft abzuschnüren.

Am Morgen nach der Veranstaltung wird auf dem Studentenradiosender Mephisto Charms vorgetragen. Leider ist die Übersetzung nicht von Peter Urban. Der filigrane Charme und Wortwitz fehlt. Peter Urban hat gesagt, er weigere sich, die Gedichte von Charms zu übersetzen, da die Reime nicht übertragbar wären. Wie groß der Verlust sein kann, macht der Vergleich klar.

(Max Bornefeld-Ettmann)

Charms, Daniil: Fälle. Prosa, Szenen, Dialoge. Ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2002.

 

 

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